Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion stärken

Democracy and citizenship

Thierry Chopin

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7. Juli 2014
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Chopin Thierry

Thierry Chopin

Head of research of the Robert Schuman Foundation, associate professor at the Catholic University of Lille (ESPOL)

Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion stärken

PDF | 364 koAuf Deutsch

Die Finanz- und Schuldenkrise hat eine grundlegende Debatte über die Zukunft der europäischen Konstruktion aufgeworfen. Um die Souveränität gegenüber den Märkten und damit die Entscheidungsmacht über ihre Zukunft wiederzugewinnen, haben die Mitgliedstaaten - und in besonderem Maße die der Eurozone - verstanden, dass sie die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion stabilisieren müssen. Man hat Mechanismen zur Finanzsolidarität entwickelt [1] und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ins Leben gerufen. Es wurden strengere Regeln im Haushaltsbereich durchgesetzt und die Mechanismen zur Wirtschaftssteuerung verstärkt (wie"Sixpack", der SKS-Vertrag (Fiskalpakt) und"Twopack").

Zudem ist die Entstehung der Bankenunion vorangeschritten, was zur Bildung einer Aufsichtsbehörde im Rahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) und zu einer Vereinbarung innerhalb des Rates über einen wahrhaftig europäischen Mechanismus zur Bankenabwicklung geführt hat.

Und dennoch herrscht Uneinigkeit über die Wirtschafts- und Haushaltsunion, vor allem hinsichtlichder europäischen Beteiligung an nationalen Entscheidungen und der Zweckmäßigkeit einer verstärkten Haushaltssolidarität (etwa in Bezug auf die Vergemeinschaftung eines Teils der Verschuldung, finanzielle Anreize als Gegenleistung für Reformen, den Haushalt der Eurozone, usw.). Stellt man die Legitimität europäischer Entscheidungen in Frage, ist eine Weiterentwicklung der politischen Vision der Europäischen Union vonnöten - ein Thema, das bis dato allerdings nur schleppend vorankommt. [2]

Auch wenn Fortschritte im Sinne einer Stärkung der Europäischen Integration durchaus möglich sind, bleibt hierbei die Frage nach dem institutionellen und rechtlichen Rahmen unumgänglich. Bei jeder einzelnen vorstellbaren Reform geht es um die konkrete Umsetzung, ob bei einer Neuerung innerhalb der bestehenden Verträge, einer Änderung des europäischen Vertragswerks oder einem zwischenstaatlichen Vertrag.

Die Versuchung des Status quo - eine realistische Wahl?

Im aktuellen politischen Klima, geprägt durch erstarkenden Populismus und die Erfolge rechtsextremer und europafeindlicher Parteien, erscheint es unwahrscheinlich, dass sich einzelne Staats- und Regierungschefs dafür stark machen werden, ambitionierte Reformen der europäischen Verträge einzuleiten; sie scheuen sich davor, das politische Risiko eines Ratifikationsprozesses ohne sicheren Ausgang auf sich zu nehmen. Dies betrifft vor allem Staaten, die ein Referendum abhalten müssen. In einem solchen Kontext sollte man zunächst jene Fortschritte analysieren, die man ohne eine Änderung des derzeitigen rechtlichen Rahmens erreichen könnte, und die sich allein aufgrund der politischen Stoßrichtung, die die betroffenen Staaten der Wirtschaftsunion und der Eurozone geben möchten, erzielen lassen könnten.

Angesichts der Größe dieser Herausforderung ist eine Entscheidung für den Status quo verlockend. Es scheint zu viele Hindernisse zu geben, um über den gegenwärtigen Zustand hinauszugehen, den die Europäische Union seit wenig mehr als 20 Jahren mit dem Binnenmarkt und später dem Euro als den beiden letzten großen strukturellen Projekten erreicht hat. Die Erklärungsmuster für die Schwierigkeiten, mittel- und langfristig ein neues politisches Projekt für Europa anzugehen, sind hinlänglich bekannt [3] der Mangel an einer europäischen Führung; die Stärkung des Prinzips der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit; [4] die Tendenz, auf den Staat zurückzugreifen; und all dies im doppelten Kontext des wachsenden internationalen Wettbewerbs und einer seit der Großen Depression beispiellosen internationalen Finanz- und Schuldenkrise. Angesichts dieser Faktoren droht das alternde Europa in einem unveränderten Zustand zu verharren. Zudem erscheint der Druck der Märkte heute weniger stark als noch vor wenigen Monaten, und es ginge lediglich darum, die Union zu konsolidieren, ohne das derzeitige Fundament grundlegend zu ändern.

Doch der gegenwärtige Zustand stellt langfristig keine verlässliche Lösung dar. [5] Wenn aus der Krise eine Lehre gezogen werden kann, dann die, dass die wirtschaftliche Steuerung in Europa an ihre Grenze gekommen ist, [6] hinsichtlich ihrer Wirksamkeit wie auch ihrer Legitimität. Die Haushaltsregeln und die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten haben an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie entweder nicht angewandt wurden oder weil die betreffenden institutionellen Werkzeuge für eine Krisensituation ungeeignet sind - der europäische Haushalt allein ist unzureichend, um einen echten Aufschwung zu erzeugen; Entscheidungen im Bereich Haushalt und Steuern setzen die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten und damit langwierige diplomatische Verhandlungen voraus. Nicht zuletzt haben die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten ausschließlich Ziele formuliert, ohne die dafür notwendigen Mittel zu definieren.

Zudem wird in politischer Hinsicht die Diskrepanz zwischen der derzeitigen Arbeitsweise der europäischen Institutionen und den Erfordernissen der Krise immer deutlicher. Diplomatische Beratungsgespräche erscheinen zu zeitraubend: So hat es Monate gedauert, um über die Rettungshilfen für die Krisenländer zu verhandeln, was Ausmaße und Kosten der notwendigen Hilfen nur vervielfacht hat. Infolgedessen hat sich in der europäischen Öffentlichkeit zunehmend das Gefühl verbreitet, dass Europa der Krise stets hinterherhinke.

Darüber hinaus ist an der derzeitigen Vorgehensweise der europäischen Institutionen äußerst beunruhigend, dass der Ausgang der Verhandlungen ungewiss ist. Die Positionen der verschiedenen Regierungen scheinen stets dem Wahlkalender zu unterliegen. Regierungsentscheidungen können sogar später auf nationaler Ebene wieder in Frage gestellt werden - vor allem derzeit, wenn zahlreiche Regierungen in ihren Ländern politisch geschwächt sind. Die daraus resultierende Unsicherheit führt dazu, dass Investoren gravierende wirtschaftliche Risiken wahrnehmen und sich zurückziehen. Zudem wird die Glaubwürdigkeit europäischer Zusagen geschwächt.

Außerdem entsteht aus der momentanen Arbeitsweise, bei welcher der Europäische Rat in der Krisenbewältigung Vorrang vor dem Europäischen Parlament hat, ein Problem der Lesbarkeit und der Legitimität für die europäischen Bürger; kurz, sie schafft Unsicherheit. [7] Debatten auf nationaler Ebene erlauben es den Europa-Abgeordneten zwar, entschieden Stellung zu beziehen, allerdings immer vor dem Hintergrund, dass die Entscheidungen letztendlich das Ergebnis von Beratungsgesprächen mit anderen Staats- und Regierungschefs sind. Infolgedessen gibt es zu den Themen des Haushaltsföderalismus und der Wirtschaftspolitik (besonders zu Sparmaßnahmen und Strukturreformen) kaum eine transeuropäische öffentliche Debatte außerhalb des Europäischen Parlaments, das wiederum seinerseits keinerlei Entscheidungsbefugnis in diesen Bereichen hat.

All dies verursacht politische und wirtschaftliche Kosten. Dazu gehört, dass extremistische und populistische Parteien in Europa auf dem Vormarsch sind. Sie prangern demokratische Schwächen an, besonders auf europäischer Ebene, und lehnen das bestehende politische und wirtschaftliche System ab. In wirtschaftlicher Hinsicht bremst diese Unsicherheit Investitionen und Wachstum und damit auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa. Der Status quo birgt also Nachteile, und es wäre eine Illusion, sich mit der Konsolidierung unserer bisherigen Errungenschaften zufrieden zu geben.

Die Positionen der EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten zur Reform der EU

Im September 2012 unterzeichneten die Außenminister von 11 EU-Mitgliedstaaten einen Beschluss, [8] der als erster Versuch der Formalisierung des Projekts einer politischen Union gelten kann.

Anlässlich des Europäischen Rates vom 12. Dezember 2012 stellte Ratspräsident Herman Van Rompuy ein Positionspapier für die Umsetzung einer echten wirtschaftlichen und währungspolitischen Union [9] vor, das vier strukturelle Schwerpunkte setzt: einen integrierten Finanzrahmen; einen integrierten Haushalt; einen integrierten wirtschaftspolitischen Rahmen; und eine Stärkung der demokratischen Legitimität sowie der Rechenschaftspflicht.

Die Europäische Kommission veröffentlichte im November 2012 ein"Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion, Auftakt für eine europäische Diskussion", [10] in welchem einige Vorschläge auch eine Überarbeitung der bestehenden Verträge implizieren.

Das Europäische Parlament erwägt seinerseits, dass"eine echte WWU [Wirtschafts- und Währungsunion] weitreichendere Befugnisse, Finanzmittel und eine demokratische Rechenschaftspflicht erfordert und ihre Errichtung auf einem zweistufigen Konzept basieren sollte, erstens die sofortige vollständige Ausschöpfung der Möglichkeiten der bestehenden Verträge und zweitens eine Vertragsänderung durch ein Übereinkommen". [11]

Angela Merkel schien punktuell den Wunsch nach einer neuen Konvention [12] zu hegen. Seitens der CDU wurde auf dem Parteitag im November 2011 in Leipzig die Wahl des Kommissionspräsidenten nach allgemeinem Wahlrecht vorgeschlagen, was eine Vertragsänderung voraussetzt; Ende letzten Jahres bekräftigte Angela Merkel in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag , man müsse die"Verträge eben auch weiterentwickeln". [13]

Frankreichs Staatspräsident, François Hollande, äußerte am 16. Mai 2013 den Willen, der politischen Union einen neuen Inhalt zu geben. [14] Diesen Inhalt gilt es gleichwohl in der Weiterentwicklung der im Mai 2013 präsentierten deutsch-französischen Vorschläge [15] noch zu präzisieren. Diese sehen die Bildung eines Vollzeit-Präsidenten der Eurogruppe und einer Unterstruktur des Europäischen Parlaments mit Kompetenz für die Eurozone vor, [16] was beides keine Vertragsänderung notwendig machen würde.

Vertragsänderung oder Erweiterung des bestehenden Vertragswerks?

Ist eine Vertragsänderung in naher Zukunft ausgeschlossen?

Auf den ersten Blick erscheint der übliche Weg der Neuverhandlung der Verträge (nach Artikel 48 des Vertrags über die Europäische Union) der naheliegendste zu sein. Diese Methode wurde häufig vor Beginn der Krise genutzt, ob für die Bildung des gemeinsamen Marktes (Einheitliche Europäische Akte), für die Währungsunion (Vertrag von Maastricht), für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder für die europäische Asyl- und Migrationspolitik (Vertrag von Amsterdam).

Eine derartige Neuverhandlung der Verträge würde Vorteile bieten, da sie aktuelle internationale Abkommen (ESM, SKS-Vertrag) innerhalb des Rechtsrahmens der EU-Verträge konsolidieren würde. Außerdem wäre sie ein Mittel, um die WWU zu vertiefen, indem Finanzsolidarität und eine Bankenunion implementiert würden. Insgesamt würde dies mehr demokratische Legitimation mit sich bringen, insbesondere durch eine stärkere Assoziierung der nationalen Parlamente mit dem Europäischen Parlament (dessen Vorrechte gestärkt würden) hinsichtlich der Wirtschafts- und Haushaltsaufsicht, aber auch durch eine Neugestaltung der Kommissionsbesetzung. Schließlich könnte die Neuverhandlung dazu führen, einen Klärungsprozess in Gang zu setzen, der auf eine bessere Verzahnung von WWU und EU abzielen würde.

Der politische Kalender eines solchen Szenarios könnte wie folgt aussehen: Wenn die neuen Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission im Amt sind (was mit dem Ende der italienischen EU-Ratspräsidentschaft zusammenfallen wird), könnte der Europäische Rat entscheiden, einen Konvent zum Ende des Jahres 2014 einzuberufen. Dieser würde seine Arbeit über das gesamte Jahr 2015 (Wahljahr in Großbritannien) fortführen und eine Regierungskonferenz vorbereiten. Der Ratifizierungsprozess würde 2016 erfolgen (2017 finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen und in Deutschland Bundestagswahlen statt).

Derzeit ist allerdings fraglich, ob in den Mitgliedstaaten die politischen Voraussetzungen dafür gegeben sind, eine Vertragsänderung in Angriff zu nehmen; doch gerade die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten wäre für die Unterzeichnung sowie die Ratifizierung der Änderungen notwendig:

Auch wenn einige hochrangige Verantwortliche in Deutschland eine Neuverhandlung der Verträge im Sinne einer Verbesserung der wirtschafts- und finanzpolitischen Steuerung [17] in der Eurozone auf den ersten Blick nicht auszuschließen scheinen, ist es nicht sicher, ob in Deutschland wirklich Einigkeit in diesem Punkt besteht. Eventuell müsste sich eine solche Neuverhandlung auf einige Punkte beschränken, zum Beispiel darauf, der Entscheidungsbefugnis der Bankenunion eine solide rechtliche Grundlage zu geben. [18]

Eine Neuverhandlung der Verträge bedeutet auch, erneut die Büchse der Pandora zu öffnen - im Sinne von Ausnahmeanträgen dieses oder jenes Mitgliedstaats. Dies betrifft besonders das Vereinigte Königreich, das mehr denn je versucht ist, seine Beziehung zur Europäischen Union neu zu definieren. [19] Diesbezüglich haben mehrere Verantwortliche, darunter Herman Van Rompuy, vor den Nachteilen für den gemeinsamen Binnenmarkt gewarnt, die ein eventueller Rückzug der Briten aus der EU haben könnte. [20] Die Absicht, einen möglichen britischen EU-Austritt zu verhindern, könnte ein gravierendes Hindernis bei einer eventuellen Neuverhandlung der Verträge darstellen.

Und zu guter Letzt ist das derzeitige politische Klima vom Machtzuwachs für die populistischen Bewegungen sowie für die rechtsextremen antieuropäischen Parteien geprägt. EU-Skeptiker und -Gegner lehnen die Macht der nationalen und europäischen Eliten ab und fechten die politische und demokratische Legitimation der europäischen Institutionen an.

Den bestehenden Vertrag erweitern

Man könnte Fortschritte erzielen, ohne etwas am derzeitigen juristischen Rahmen zu ändern, allein aufgrund der politischen Impulse aus den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion in der Eurozone.

Folgende Maßnahmen sind denkbar:

• die Nominierung des Präsidenten der Eurogruppe in Vollzeit und ohne weiteres Mandat auf nationaler Ebene. Er könnte im übrigens zu einem Finanzminister der Eurozone werden, indem er zugleich zum Kommissar für den Euro ernannt würde. Dieser Finanzminister würde gestützt durch eine Generalfinanzdirektion der Eurozone, die zum Teil aus den derzeitigen Abteilungen der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission bestehen würde;

• eine einheitliche Vertretung der Eurozone beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei der Weltbank (vgl. Artikel 138 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

(AEUV)), wahrgenommen durch den Präsidenten der Eurogruppe;

• die Verabschiedung eines politischen Kalenders zur wirtschaftlichen und steuerlichen Konvergenz der Mitgliedstaaten;

• die Bildung einer Unterkommission der Eurozone innerhalb des Europäischen Parlaments;

• eine ambitioniertere Umsetzung des Artikels 13 des SKS-Vertrags (Fiskalpakt), der eine engere Assoziierung der nationalen Parlamente vorsieht und damit eine stärkere demokratische Legitimation der Entscheidungen im Bereich der Haushaltskontrolle schafft. [21]

Das Vorgehen im Sinne einer Weiterentwicklung, das sich auf die bereits existierenden rechtlichen Grundlagen stützt, die derzeit von den Mitgliedstaaten angewendet werden ("Sixpack"und"Twopack"auf Grundlage des Artikels 136 AEUV), hat insofern Vorteile, als es erneute Ausnahmeanträge, lange Verhandlungen und einen stets unsicheren Ratifizierungsprozess umgehen würde.

Was den politischen Kalender betrifft, könnten diese Vorschläge im Rahmen der Nominierungen (des Präsidenten der Kommission, der Kommissare, des Präsidenten der Eurogruppe und des Präsidenten des Europäischen Rates) in der zweiten Jahreshälfte 2014 diskutiert und umgesetzt werden.

Allerdings weisen sie auch Grenzen auf: Erstens limitieren die Verträge die Finanzsolidarität zwischen den Staaten, insbesondere zwischen denen der Eurozone. Zweitens würde es eine Vertragsänderung voraussetzen, [22] den ESM und den Fiskalpakt in das rechtliche Konvolut der EU zu integrieren. Drittens setzt die demokratische Legitimation der europäischen Entscheidungen im Bereich Wirtschaft weitgehende Vertragsänderungen voraus, insbesondere bezüglich einer Stärkung der Legitimation und der Repräsentativität des Europäischen Parlaments.

Kurz, ein wesentlicherer Fortschritt in der Haushalts-, Banken- und politischen Integration der Eurozone bedeutet, dass sich der derzeitige Rechtsrahmen bedeutend entwickeln muss, ebenso wie in der Vergangenheit anlässlich der Währungsunion. Aber wie?

Ein zwischenstaatlicher Vertrag?

Die bei einer Neuausgestaltung der europäischen Verträge erforderliche Einstimmigkeit dürfte schwer zu erreichen sein. Dennoch darf man die Möglichkeit eines zwischenstaatlichen, mit den europäischen Verträgen vereinbaren Vertrags der Mitgliedstaaten untereinander nicht ausschließen. [23] Diese Methode hat man bis heute bereits wiederholt angewendet: zum Beispiel beim Schengener Abkommen über die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den unterzeichnenden Mitgliedstaaten (1986); beim Prümer Vertrag über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus (2005); beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Fiskalpakt, den 25 Mitgliedstaaten im März 2012 unterzeichneten. Sie alle wurden in zwischenstaatlichem Rahmen außerhalb der EU-Verträge geschlossen.

Es wäre vorteilhaft, auf das Instrument eines zwischenstaatlichen Vertrags zurückzugreifen, um die Konsolidierung der internationalen Verträge (ESM, Fiskalpakt) in einem Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion zu erzielen, denn:

• ein solcher internationaler Vertrag würde den unterzeichnenden Staaten eine solidere Grundlage bieten, auf der sie sich rechtlich verpflichten würden, gemeinsam und untereinander eine engere Wirtschafts- und Haushaltsunion zu schaffen, begleitet von einer Finanzsolidarität sowie einer Bankenunion - insgesamt auf der Basis einer stärkeren demokratischen Legitimation;

• die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone und den"pre-ins", die dies wünschen, wären weniger schwierig als bei einer Teilnahme von 28 Mitgliedstaaten, und würden so das Blockaderisiko, insbesondere durch das Vereinigte Königreich, umgehen;

• im Übrigen wäre sein Inkrafttreten nicht abhängig von der einstimmigen Ratifizierung der unterzeichnenden Mitgliedstaaten, wobei man bezüglich der Bedingungen für das Inkrafttreten auf diejenigen des Fiskalpakts vom 25. März 2012 zurückgreifen könnte; [24]

• im äußersten Fall könnten die Verhandlung und die Ratifizierung eines solchen Abkommens zeigen, dass man einen neuen Kurs eingeschlagen hat, um die Krise zu bewältigen.

Bezüglich eines möglichen politischen Kalenders für eine solche Option würde ein Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich den Weg zu Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone und jenen"pre-ins", die es wünschen, 2014 bis 2015 ebnen. Der Ratifizierungsprozess könnte 2016 stattfinden oder auf 2017 nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland verschoben werden.

Der Rückgriff auf einen internationalen Vertrag anstelle einer Überarbeitung der europäischen Verträge birgt aber auch Nachteile: Wären in politisch-diplomatischer Hinsicht derartige Verhandlungen über einen internationalen Vertrag weniger schwierig als im Rahmen einer Neuverhandlung der Verträge zwischen den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union? Das ist nicht sicher. Zudem muss auch im Falle einer Änderung der bestehenden Bedingungen für das Inkrafttreten immer noch die Frage nach den Schwierigkeiten gestellt werden, die ein Ratifizierungsprozess immer mit sich bringt, insbesondere wenn ein Mitgliedstaat ein Referendum abhält. In rechtlicher Hinsicht würde ein solches Szenario die Frage nach der Konkurrenz zwischen zwei rechtlichen Ordnungssystemen (zwischenstaatliche Verträge der Eurozone versus EU-Verträge) und auch die nach deren Vereinbarkeit aufwerfen. In welchem Maße und bis zu welchem Punkt können neue Etappen der europäischen Integration außerhalb des Rahmens der EU-Verträge überhaupt entschieden und umgesetzt werden? Diese Option ist kein Allheilmittel, denn sie führt zu steigender Komplexität. Die Vervielfachung verschiedener Integrationsstufen und institutioneller Gebilde macht die europäische Konstruktion schwerer lesbar. Damit verkompliziert sie zugleich eine demokratische Debatte. Die Wahl eines solchen juristischen Instruments würde demnach einen zwischenstaatlichen Schwerpunkt innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion anzeigen.

Welcher Kompromiss ist denkbar?

Die vorangehenden Erläuterungen zeigen, dass es keine Ideallösung gibt (eine Vertragsänderung hätte ebenso wie ein internationaler Vertrag Schwächen). Diese Analyse soll deswegen damit enden, mögliche annehmbare Kompromisse aufzuzeigen, etwa bis Ende 2014 diejenigen Maßnahmen durchzuführen, die keine Veränderung der Verträge erfordern, sowie eine Vertragsänderung zumindest einzuleiten.

Diese würde auf Folgendes abzielen:

1. Dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein Protokoll über die WWU hinzuzufügen, das folgende Ziele hätte: zwischenstaatliche Verträge zu konsolidieren, die außerhalb des Gemeinschaftsrahmens geschlossen wurden (Fiskalpakt, ESM); die rechtlichen Grundlagen des Mechanismus' zur Bankenabwicklung sowie einer direkten Rekapitalisierung der Banken durch den ESM zu präzisieren; die Funktionsweise der europäischen Institutionen innerhalb der Eurozone genauer festzulegen (durch ein Komitee der Eurozone innerhalb des Europäischen Parlaments; die Schaffung eines Finanzministeriums der Eurozone, das die Rolle des Präsidenten der Eurogruppe und des Währungskommissars verbindet; und mittels der Verantwortlichkeit der Institutionen der Eurozone - darunter die Troika, der Finanzminister und der ESM - vor diesem Komitee).

2. Den Prozess einer begrenzten Änderung der europäischen Verträge durch die Mitgliedstaaten der WWU zu verabschieden, welche die Annahme zusätzlicher besonderer Dispositionen bezüglich der WWU erleichtern würde, solange diese mit den Regelungen der EU vereinbar blieben. Den Staaten, die nicht Mitglied der Eurozone sind, wäre es freigestellt, sich diesen anzuschließen, doch sie würden nicht ablehnen können. Die zusätzlichen Dispositionen würden in das Protokoll über die WWU aufgenommen, die dem AEUV angehängt wird (siehe oben). Die Änderungen dieses Protokolls (und damit die Aufnahme neuer Dispositionen speziell für die Eurozone) würde keine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten der Eurozone erfordern - auch nicht in denjenigen Staaten, die sich dazu entscheiden, das Regelungswerk der Eurozone zu übernehmen.

3. Im Rahmen des Protokolls über das Vereinigte Königreich diejenigen Bereiche zu präzisieren, an denen das Land weiterhin teilnimmt. Das Vereinigte Königreich könnte nicht an Entscheidungen (im Parlament oder im Rat) in denjenigen Bereichen beteiligt sein, in welchen es sich gegen eine Teilnahme entschieden hat. Was den Haushalt betrifft, würde es sich ausschließlich an Budgets in den Bereichen beteiligen, in denen es sich für eine Teilnahme entschieden hat, ohne dabei ein Mitspracherecht beim Gesamtrahmen zu haben. Und schließlich würde sich das Vereinigte Königreich die Möglichkeit des"opt-in"erhalten, für weitere Politikbereiche außerhalb derjenigen, für die es sich im Rahmen des Protokolls verpflichtet hat.

4. Die Veränderungen, die die Stärkung der demokratischen Legitimation der europäischen Institutionen zum Ziel haben, mit aufzunehmen, und das Projekt einer"politischen Union"zu konkretisieren (siehe Anhang 1).

[25]

[1] Seit 2010 beläuft sich die Gesamthöhe der Finanzhilfen der Eurozone für ihre krisengeschüttelten Mitgliedstaaten auf 425 Milliarden Euro.
[2] Thierry Chopin,"Political union: legitimacy and efficiency to overcome the crisis", in: European View, Center for European Studies, 2013; ders.,"Political Union: from slogan to reality", in: Schuman Report on Europe, State of the Union 2013, Paris 2013.
[3] Vgl. Christian Lequesne,"L'Union européenne après le traité de Lisbonne: diagnostic d'une crise", in: Questions internationales, Nr. 45, September/Oktober 2010.
[4] Vgl. Piotr Buras,"The EU's Silent Revolution", Policy Brief, ECFR, September 2013, (abgerufen am 11.06.2014).
[5] Vgl."Aufbruch in die Euro-Union", in: Die Zeit, 17.10.2013, eine Stellungnahme von Mitgliedern der Glienicker Gruppe (deutsche Ökonomen, Juristen und Politikwissenschaftler). Download der Langfassung unter (abgerufen am 11.06.2014).
[6] Mit Ausnahme der Geldpolitik der EZB, die allerdings nur eine globale Strategie vorschlagen und umsetzen kann, um die Krise definitiv zu bremsen.
[7] Wie Nicolas Véron betont, haben die europäischen Staats- und Regierungschefs"kein europäisches politisches Mandat ", vgl."The Political Redefinition of Europe", Opening Remarks at the Financial Markets Committee (FMK)'s Conference on"The European Parliament and the Financial Market", Stockholm, Juni 2012, , (abgerufen am 11.06.2014). Einzeln genommen verfügen die Mitglieder des Europäischen Rates natürlich über ein Mandat, da sie demokratisch gewählt sind, aber die Anhäufung dieser nationalen Mandate, die oft inkompatibel sind, schafft kein europäisches politisches Mandat.
[8] Vgl."Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas "der Außenminister (Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Deutschland, Niederlande, Polen, Portugal, Spanien) vom 17.09.2012, < http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/626324/publicationFile/171784/120918-Abschlussbericht-Zukunftsgruppe-Deutsch.pdf> (abgerufen am 11.06.2014).
[9] Vgl."Towards a Genuine Economic and Monetary Union", 5.12.2012, (abgerufen am 11.06.2014); vgl. auch die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 13./14.12.2012, (abgerufen am 11.06.2014).
[10] Vgl."Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion, Auftakt für eine europäische Diskussion", Europäische Kommission, 28.11.2012, (abgerufen am 11.06.2014).
[11] Vgl."Entwurf eines Berichts über konstitutionelle Probleme ebenenübergreifender Verwaltungsmodalitäten in der Europäischen Union", 10.07.2013, (abgerufen am 11.06.2014); vgl. auch"Entschließungsantrag zur Stärkung der Demokratie in der EU in der künftigen WWU", (abgerufen am 11.06.2014).
[12] Vgl."The Future of Europe: Merkel Pushes for Convention to Draft New EU Treaty", in: Spiegel Online International, August 2012, (abgerufen am 12.06.2014).
[13] Vgl. Regierungserklärung von Angela Merkel vor dem Deutschen Bundestag am 18.12.2013, (abgerufen am 12.06.2014).
[14] Vgl. François Hollande:"Deutschland hat sich wiederholt dahingehend geäußert, dass es bereit sei zu einer politischen Union, zu einer neuen Stufe der Integration. [...] Frankreich ist ebenfalls gewillt, einer politischen Union neuen Inhalt zu verleihen. [...] Hier geht es nicht mehr um politische Sensibilitäten, sondern um eine dringende Angelegenheit", Erklärung des Präsidenten der Französischen Republik während einer Pressekonferenz am 16.05.2013, (abgerufen am 12.06.2014).
[15] Vgl."La France et l'Allemagne ensemble pour renforcer l'Europe de la Stabilité et de la Croissance", 30.05.2013, (abgerufen am 12.06.2014).
[16] Diese deutsch-französischen Initiativen werfen Fragen auf, die gerade in institutioneller Hinsicht beantwortet werden müssen. Die unterbreiteten Vorschläge sind von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet. Was einen Vollzeit-Präsidenten der Eurogruppe angeht, stellt sich die Frage nach dessen Verantwortung vor dem Europäischen Parlament. Zudem wirft die Stärkung der zwischenstaatlichen Koordinierung die Frage auf, wie dem Risiko begegnet werden könnte, das zwei Stränge der Exekutive im Bereich Wirtschaft (Rat versus Kommission) sowie zwei rechtliche Ordnungssysteme (zwischenstaatliche Verträge der Eurozone versus EU-Verträge) miteinander konkurrieren. Wie wäre beides zu vereinbaren? Außerdem müssen die Befugnisse der Unterstruktur des Europäischen Parlaments mit Kompetenz für die Eurozone präzisiert werden. Wie übt sie ihre demokratische Kontrolle aus? Wird sie gemeinsam mit dem Europäischen Rat entscheiden können? Übt sie hinsichtlich der EU-Troika Kontrolle aus? Wird sie befugt sein, die Nominierung des Präsidenten der Eurogruppe anzuhören und zu bestätigen?
[17] Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat sich wiederholt für eine Neuverhandlung der Verträge ausgesprochen, erneut vgl. Financial Times vom 28.03.2014, (abgerufen am 12.06.2014).
[18] Vgl."Angela's Agenda: A Grand, Controversial Plan for Europe", in: Spiegel Online International, 21.10.2013, (abgerufen am 12.06.2014).
[19] In einer Rede am 23.01.2013 versprach David Cameron, dass er im Falle eines Sieges der Tories bei den Wahlen im Frühjahr 2015 im Jahr 2017 ein Referendum über neue Bedingungen der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs abhalten werde, vgl. David Cameron,"EU speech at Bloomberg"23.01.2013, (abgerufen am 12.06.2014).
[20] Vgl. Ansprache des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, in London am 28.02.2013, Policy Network, (abgerufen am 12.06.2014).
[21] Laut Artikel 13 des Fiskalpakts"bestimmen das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente der Vertragsparteien gemeinsam über die Organisation und Förderung einer Konferenz von Vertretern der zuständigen Ausschüsse des Europäischen Parlaments und von Vertretern der zuständigen Ausschüsse der nationalen Parlamente, um die Haushaltspolitik und andere von diesem Vertrag erfasste Angelegenheiten zu diskutieren.", (abgerufen am 12.06.2014). Die Modalitäten der Umsetzung dieses Artikels könnten im Rahmen eines Vertrages zwischen den Institutionen geregelt werden. Die Interparlamentarische Konferenz der Wirtschafts- und Finanzführung der Europäischen Union, wie sie der SKS-Vertrag vorsieht, hielt ihre erste Sitzung am 16.-17.10.2013 in Vilnius und vom 20.-22.01.2014 in Brüssel ab.
[22] In technischer Hinsicht könnte der Fiskalpakt auf Grundlage des Artikels 126 integriert werden, allerdings setzt dieser die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten voraus, die anfänglich aufgrund des Vetos des Vereinigten Königreichs nicht erreicht werden konnte.
[23] So die These von Jean-Claude Piris,"The Future of Europe: Towards a Two Speed Europe?", Cambridge 2012.
[24] Der SKS-Vertrag trat nach der Ratifizierung durch 12 Mitgliedstaaten der Eurozone in Kraft.
[25] Vgl."ESM direct bank recapitalisation instrument - Main features of the operational framework and way forward", Luxemburg, 20. Juni 2013, (abgerufen am 12.06.2014).

Publishing Director : Pascale Joannin

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