Die neue deutsche Regierung: Eine europäische Wende?

Future and outlook

Stefan Seidendorf

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27. Mai 2025
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Stefan Seidendorf

Deputy Director, currently Managing Director, Franco-German Institute (dfi)

Die neue deutsche Regierung: Eine europäische Wende?

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Mit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung verbindet sich für viele Beobachter die Erwartung eines europäischen „Neustarts“ und einer „neuen Dynamik“ des „deutsch-französischen Motors“. Bereits im Wahlkampf, sodann im Koalitionsvertrag und seit dem Amtsantritt, wurden entsprechende programmatische Punkte von den Protagonisten entwickelt und offensiv vertreten. Zur Erlangung von „europäischer Handlungsfähigkeit“ setzen sie stark auf mitgliedstaatliche Initiativen, insbesondere auf die deutsch-französische und deutsch-französisch-polnische Kooperation. Die neue Bundesregierung ist dabei durchaus gewillt, sich die nötigen Instrumente und Mittel zu verschaffen, um den aktuellen Herausforderungen begegnen zu können, ohne dass bisher jedoch absehbar wäre, ob daraus eine Stärkung der EU-Ebene, etwa durch gemeinsame Finanzierungsinstrumente, entstehen könnte. Als Fazit bleibt die Frage, ob die angestrebten Ziele so erreicht werden können, insbesondere angesichts der innenpolitisch instabilen Situation in Deutschland und weiteren EU-Mitgliedsländern. 

1. Inhaltliche Positionierungen: Eine europäische Ambition

Der neue Bundeskanzler hatte bereits im Wahlkampf viel Aufmerksamkeit auf außenpolitische Themen gelegt. Die Dringlichkeit, die sich in erster Linie aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und sodann durch den Amtsantritt von Donald Trump als Präsident der USA ergibt, schlägt sich im Koalitionsvertrag nieder. Dabei steht für die Akteure im Vordergrund, dass der Umgang mit diesen Herausforderungen europäische Einigkeit voraussetzt. Gleichzeitig wird auf die besondere Verantwortung Deutschland verwiesen, um „europäische Handlungsfähigkeit“ herzustellen.

1) Der Kandidat

Friedrich Merz hatte bereits eine lange politische Laufbahn hinter sich, ehe er mit 69 Jahren zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Der Jurist und Rechtsanwalt begann seine Karriere im Europäischen Parlament (1989-1994), bis heute beansprucht er deshalb eine besondere EU-Affinität, so zuletzt bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel, am 9. Mai 2025. Nachdem er sich zunächst 2009 im Streit mit Angela Merkel aus dem Bundestag zurückgezogen hatte, war er längere Zeit in der Finanzbranche tätig. Insbesondere sein Engagement von 2016-2020 als Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock Asset Management Deutschland AG wird von ihm angeführt, um seine Wirtschafts- und Unternehmenskompetenz sowie seine internationale und transatlantische Vernetzung zu belegen.

Bereits im Bundestagswahlkampf nutzte Friedrich Merz die Außen- und Europapolitik, um sich zu profilieren und den Amtsinhaber unter Druck zu setzen. Dieser habe keine proaktive Europapolitik betrieben und dem deutsch-französischen Verhältnis zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Angesichts der Entwicklungen nach dem Amtsantritt Donald Trumps wurde Friedrich Merz noch deutlicher. Während der TV-Gesprächsrunde nach der Wahl erklärte er die Unabhängigkeit Europas von den USA zur „absoluten Priorität“.

2) Der Koalitionsvertrag

Der 144-seitige Koalitionsvertrag, der im Anschluss an die Bundestagswahl zwischen CDU-CSU und SPD beschlossen wurde, ist das Resultat eines Verhandlungsprozesses, an dem 256 Vertreter der drei Parteien beteiligt waren. Dieses Verfahren erlaubte den Protagonisten, die sich im Wahlkampf noch frontal gegenüberstanden, eine gemeinsame Programmatik zu entwickeln. Unter dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ enthält sie Kompromisse, die Ausdruck breit abgestimmter Weiterentwicklungen und Neubestimmungen von Positionen sind.

Das Europakapitel umfasst eine große Anzahl an Themen, die Kompromisslinien zwischen den beteiligten Partnern darstellen. Besonderes Augenmerk liegt auf der europäischen Wettbewerbsfähigkeit (Zeile 4330). Ohne dabei auf die laufende Reformdebatte einzugehen[1], wird betont, dass Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen des EU-Binnenmarkts über Innovation, nicht über Steuerdumping zwischen den Mitgliedstaaten (4333), zu erreichen sei. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Schaffung einer europäischen Energieunion (4338), wobei der Schwerpunkt der Überlegungen offensichtlich auf Aspekten liegt, die die gemeinsame Verantwortung der beteiligten Ländern und der EU betreffen, also etwa die grenzüberschreitende Strom-Infrastruktur. 

Ausführlicher geht der Koalitionsvertrag dann auf die „strategische Souveränität“ der EU ein (ab 4395). Dieses vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron erstmals 2017 entwickelte Konzept, das in der deutschen Debatte erst später ausführlich diskutiert wurde, findet sich nun an prominenter Stelle: 

Angesichts des geopolitischen Epochenbruchs muss Europa umfassende strategische Souveränität entwickeln. Schlüsseltechnologien, Energiesicherheit, digitale Souveränität inklusive europäischer Plattformen, Schutz kritischer Infrastrukturen, Resilienz sowie eigene Fähigkeiten, um sich im globalen Systemwettbewerb zu behaupten, sind dafür zentral. Wir setzen uns für eine Europäische Verteidigungsunion zur Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO ein. Wir wollen einen echten Binnenmarkt für Verteidigungsgüter mit gemeinsamen Exportregeln und enger Zusammenarbeit bei Planung, Entwicklung und Beschaffung…“ (4404).

Damit einher geht seit dem Wahlkampf das Plädoyer für eine weniger bürokratische EU (4347-4348). Die wichtigsten Elemente dieses Europaprogramms werden schon länger in der französischen Debatte, insbesondere im Lager von Staatspräsident Macron, thematisiert (Wettbewerbsfähigkeit, Energieunion, strategische Souveränität…). Dies gilt bis hin zur Methode, hatte Präsident Macron 2017 Deutschland doch einen „neuen Pakt“[2] vorgeschlagen, um die EU durch mitgliedstaatliche Impulse weiterzuentwickeln. Andererseits sind die diskutierten Themen seit längerer Zeit nicht zuletzt durch deutsch-französische Interessenunterschiede gekennzeichnet, insbesondere in der Energiepolitik, bei der Frage nach weiteren Freihandelsabkommen (Mercosur) oder der Ausrichtung der EU-Beihilfepolitik. Hier wurde in der Vergangenheit einmal mehr die die EU bis heute strukturierende Konstellation sichtbar: Deutsch-französische Interessenunterschiede erschweren oder lähmen in der EU die gemeinsame Entscheidungsfindung. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass zur Weiterentwicklung der EU deutsch-französische Kompromisse und Kooperation eine Voraussetzung sind.  

2. Die Methode: Deutsch-französische Impulse für europäische Handlungsfähigkeit

Um die beschriebene inhaltliche Agenda umzusetzen und insbesondere auf die Herausforderungen des „geopolitischen Epochenbruchs“ reagieren zu können, betont der Koalitionsvertrag deshalb die Notwendigkeit einer aktiven europäischen Politik Deutschlands (4304), eng verbunden mit der weiterhin „überragenden Bedeutung“ der „deutsch-französischen Freundschaft“ „für ganz Europa“ (4310). Die neue Bundesregierung legt besonderen Wert auf eine starke und demokratische EU und will „alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Handlungsfähigkeit und strategische Souveränität der EU zu stärken“ (4304). Noch deutlicher als im Koalitionsvertrag 2021 nähert man sich damit den Vorstellungen und sogar dem Vokabular an, das Präsident Macron seit seiner Sorbonne-Rede 2017 unablässig betont hat. Gleichzeitig fehlt der Bezug auf die „Gemeinschaftsmethode“ (2021:104) und die Weiterentwicklung der EU „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ (2021:104). Beides war 2021 noch im Koalitionsvertrag enthalten. Stattdessen steht nun das mitgliedstaatliche Handeln im Vordergrund. Insbesondere die engere Koordination mit Frankreich und Polen soll die europäische Integration stärken. 

1) Rückbesinnung auf den deutsch-französischen Motor 

Bereits drei Tage nach der Bundestagswahl, noch vor seiner Wahl zum Bundeskanzler am 6. Mai, trafen sich Friedrich Merz und der französische Präsident Emmanuel Macron am 26. Februar 2025 im Élysée-Palast. Ein zweites Treffen fand am 6. März statt. Diese Treffen standen für die meisten Beobachter im offensichtlichen Kontrast zu den Begegnungen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Emmanuel Macron. Die Zeitung Le Monde stellte fest: « Les deux dirigeants sont soucieux de relancer le moteur franco-allemand, alors que les relations entre le chef de l’État et le chancelier sortant, Olaf Scholz, n’ont jamais été fluides. » (Beide Politiker sind bestrebt, den deutsch-französischen Motor wieder in Gang zu setzen, wohingegen die Beziehungen zwischen dem Staatschef und dem scheidenden Bundeskanzler Olaf Scholz nie reibungslos waren.)

Friedrich Merz sprach anlässlich dieses ersten Treffens bereits von einem „historischen Augenblick“ und stellte fest: „Zusammen können unsere Länder Großes erreichen.“

Anlässlich des „offiziellen Antrittsbesuchs“ in Paris, am 7. Mai 2025, veröffentlichten die beiden Politiker einen langen gemeinsamen Text, der in mehreren europäischen Tageszeitungen erschien und die Thematik eines Neubeginns aufnimmt: „Nous sommes entendus sur un agenda complet de relance de notre relation et pour renforcer l’Europe.“ / „haben wir eine umfassende Agenda vereinbart, um unsere Beziehung neu auszurichten und Europa zu stärken“.

Dabei fällt auf, dass bei den Akteuren offenbar ein geteiltes Verständnis über die Rolle und die Funktionsweise der deutsch-französischen Kooperation besteht. Frankreich und Deutschland müssen in wichtigen politischen Entscheidungen zu Kompromissen kommen, um Blockaden zu verhindern und die EU weiterzuentwickeln: „Nous exploiterons au maximum la coordination et le réflexe franco-allemands pour rendre l’Europe plus souveraine, en mettant l’accent sur la sécurité, la compétitivité et la convergence.“/ „Die enge deutsch-französische Abstimmung soll künftig voll zum Tragen kommen: für ein souveräneres Europa mit Fokus auf Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz“.

Neben dieser neuen Dynamik gilt das besondere Augenmerk der neuen Bundesregierung dem östlichen Nachbarn Polen. Warschau war am 7. Mai die zweite Station der europäischen Antrittsreise des neuen Bundeskanzlers. Allerdings wurde die zwischenstaatliche Kooperation hier in erster Linie über die „Wiederbelebung“ des Weimarer Dreiecks diskutiert – also unter Einbeziehung Frankreichs, in einer Dreierkonstellation. Die Koalition plant, bei der Vorbereitung von EU-Entscheidungen eine stärkere Zusammenarbeit und Abstimmung mit diesen Ländern zu etablieren. In einem erweiterten Format „Weimar plus“ sollen auch weitere enge Partner einbezogen werden.

Angesichts des ungewissen Ausgangs der polnischen Präsidentenwahl wird abzuwarten bleiben, ob dieser Ansatz sich dauerhaft als ein politisches Format etablieren kann, aus dem wichtige Impulse für die europäische Politik entstehen. Die politische Dringlichkeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheint dies nahezulegen. Andererseits fehlt beim Weimarer Dreieck bis heute die verbindliche Kontinuität des Formats und der administrative Unterbau, die beispielsweise den Elysee-Vertrag und den damals institutionalisierten Politikprozess kennzeichnen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie die anderen Mitgliedsländer auf den selbsterklärten Führungsanspruch reagieren und unter welchen Bedingungen sie bereit sind, diesen zu akzeptieren. 

2) Handlungsfähigkeit

Neben der bi- und trilateralen Abstimmung der Europapolitik zwischen Mitgliedstaaten enthält der Koalitionsvertrag weitere Elemente, die die Handlungsfähigkeit der EU verbessern oder erst herstellen sollen. Im Koalitionsvertrag wird grundsätzlich die Möglichkeit einer Vertragsreform (der EU-Verträge) nicht ausgeschlossen. Zunächst sollen jedoch die weniger aufwendigen Instrumente eingesetzt werden („Pasarelle-Klauseln“), um weitere Bereiche der EU-Politik in qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu überführen. Explizit genannt wird (4008) die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), sowie der Anspruch, in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eine „Führungsrolle“ zu übernehmen (4011). Auch hier wird nicht ausgeschlossen, in bestimmten Fällen in intergouvernementalen Formaten (mit Großbritannien und Frankreich) auch außerhalb der EU zu handeln. Um Handlungsfähigkeit herzustellen und Blockaden durch einzelne Mitgliedstaaten zu vermeiden, bekennt sich die Koalition auch zu einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ (4414), was seit dem Vorstoß von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble zu „Kerneuropa“ von 1994 nicht mehr so offensiv von Deutschland vertreten wurde.

3. Instrumente und Mittel

Um die ambitionierten Ziele umzusetzen und die angestrebte Rolle im Rahmen des europäischen Mehrebenensystems wahrnehmen zu können, benötigt die neue Bundesregierung schließlich entsprechende Ressourcen. Diese sind nicht nur materieller und finanzieller Natur, sondern betreffen auch den politischen Abstimmungsprozess innerhalb der Bundesregierung und im föderalen deutschen System. 

1) Europapolitik „aus einem Guss“

Gerade die letzte Bundesregierung hatte mit einem Phänomen zu kämpfen, das schon länger unter der ironischen Bezeichnung „The German Vote“ firmiert[3]: Die Abstimmungsprozesse in einer Koalitionsregierung, zwischen formal autonomen Ministerien, sind so komplex, dass es bisweilen nicht gelingt, die deutschen Vertreter im Rat der EU mit einer eindeutigen deutschen Position zu instruieren, sodass Deutschland sich bei Abstimmungen enthalten muss. In der letzten Legislaturperiode waren unter anderem die Abstimmungen zum Verbot von Verbrennermotoren in Neuwagen und das Lieferkettengesetz davon betroffen; in beiden Fällen verlangte der Koalitionspartner FDP nach der Einigung im Rat, das Kompromisspaket der 27 Mitgliedstaaten wieder aufzuschnüren. 

Der CDU ist es nun gelungen, alle für die Europapolitik relevanten Ministerien zu besetzen. Zum ersten Mal seit Außenminister Gerhard Schröder (1961-1966) wird mit Johann Wadephul wieder ein CDU-Politiker Außenminister. An seiner Seite im Außenministerium ist Gunther Krichbaum Staatsminister für Europa. Im Wirtschaftsministerium wird die neue Ministerin für Wirtschaft und Energie Katharina Reiche versuchen, „die längste Krise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ zu überwinden und dafür insbesondere der „Energiepolitik höchste Priorität“ einzuräumen, außerdem will sie Verhandlungen zu neuen Freihandelsabkommen aufnehmen. Schließlich setzte der neue Bundeskanzler bei seiner ersten Regierungserklärung vor dem Bundestag am 14. Mai 2025 wichtige Akzente in der Außenpolitik und verdeutlichte, dass er sich bei der innereuropäischen Abstimmung hier auch selbst einbringen wird.

Dazu hat die neue Regierung vereinbart, die Europapolitik zukünftig zentral im Bundeskanzleramt zu koordinieren (4543-4552). Sollte es zu Konflikten zwischen den Ministerien („Ressortkonflikten“) kommen, dann ist geplant, diese im Bundeskabinett zu lösen, also auf der obersten politischen Ebene der Bundesregierung. Dieses für Deutschland neue Vorgehen verdeutlicht den Stellenwert, den die Europapolitik und die Positionierung der Bundesregierung in den Brüsseler Entscheidungsprozessen künftig haben soll. 

2) Investitionen, Schuldenbremse, aber keine europäische Verschuldung

Wie sieht schließlich die Bereitschaft der neuen Bundesregierung aus, zur Umsetzung der selbst gesteckten Ziele und Herstellung der „umfassenden europäischen Handlungsfähigkeit“ auch entsprechende Mittel in die Hand zu nehmen? 

Die 2009 in die Verfassung eingeführte sogenannte „Schuldenbremse“ soll mittelfristig einen ausgeglichenen öffentlichen Haushalt gewährleisten und dem Risiko der Überschuldung der öffentlichen Hand vorbeugen. In der Praxis hat sie in den letzten Jahre aber zu einem Investitionsstau in der öffentlichen Infrastruktur gesorgt, den die Experten des Institut der Wirtschaft in Köln beispielsweise auf 600 Milliarden € schätzen, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin errechnete vor der Bundestagswahl einen Bedarf von mindestens 100 Milliarden € in den nächsten vier Jahren. 

Direkt nach der Bundestagswahl kam es deshalb zur Verabschiedung eines einmaligen „Sondervermögens“, eines Investitionspakets in Höhe von 500 Milliarden €. Zusätzlich wurde beschlossen, die Regeln der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben zukünftig außer Kraft zu setzen und die Schuldenbremse selbst zu einem späteren Zeitpunkt zu reformieren. 

Dabei sind die Auswirkungen des enormen Sondervermögens, das über einen Zeitraum von 12 Jahren investiert werden soll, und von dem 100 Milliarden € in den Klima– und Transformationsfonds gehen werden, 100 Milliarden € an die Bundesländer, derzeit noch nicht wirklich zu überblicken: Das DIW schätzt, dass das Sondervermögen positive Effekte auf das Wirtschaftswachstum haben wird, insbesondere ab 2028 könnte der zusätzliche Wachstumseffekt durch das Paket zu einem im Durchschnitt 2% höheren Wirtschaftswachstum in Deutschland führen.

Weniger diskutiert wird bisher, welche Auswirkungen diese öffentlichen Investitionen auf die EU als Ganzes haben werden. Einerseits kann davon ausgegangen werden, dass sich ein stärkeres Wachstum der größten Volkswirtschaft der EU über wirtschaftliche Verflechtungen und Wertschöpfungsketten auch positiv auf die anderen Volkswirtschaften auswirken wird. Andererseits wurde kritisiert, dass die dafür notwendige enorme Kreditaufnahme Deutschlands zu steigenden Zinsen an den Finanzmärkten führt. Dies könnte es anderen EU-Staaten erschweren, ihrerseits Kredite aufzunehmen und notwendige Ausgaben durch Staatsschulden zu finanzieren. 

Die neue Bundesregierung bestätigt aber zugleich, dass Deutschland „auch weiterhin nicht für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten“ haften wird (4366). Das lässt immerhin die Möglichkeit offen, den EU-Haushalt mit mehr Mitteln auszustatten, der Koalitionsvertrag bleibt hier jedoch unverbindlich: Der neue „mehrjährige Finanzrahmen muss den Herausforderungen und dem Anspruch an eine geopolitisch handlungsfähige EU Rechnung tragen“ (4361), wozu Deutschland einen „angemessenen Beitrag“ leisten will (4360). Ausführlich wird auf die Kohäsionspolitik eingegangen, um zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft auch in strukturschwachen Regionen beizutragen (ab 4378). 

4. Fazit im Angesicht internationaler Herausforderungen und instabiler Verhältnisse zuhause

Welches Fazit über die zukünftige Rolle der Bundesregierung in der Europapolitik kann nun gezogen werden?

1) Internationale Herausforderungen: Die Zeit, die bleibt

Einerseits ist die gegenwärtige Situation durch hohe Dringlichkeit geprägt, was politische Entscheidungen, und zumal gemeinsame europäische Entscheidungen angeht. Dabei sind die bestehenden Probleme außerdem durch politische Spannungsverhältnisse geprägt. 

Dies gilt beispielsweise bei Energiewende und Klimapolitik, denen im Koalitionsvertrag erkennbar weniger Aufmerksamkeit zukommt, als noch 2021. Sowohl der Klimawandel, als auch die Anpassung des europäischen Wirtschaftsmodells, werden jedoch keinen langen Aufschub dulden. Hier wäre also rasches und entschiedenes Handeln gefragt. Das gilt in erster Linie auch bei der Energiewende, deren erfolgreiche Umsetzung eine weitere europäische Vernetzung, einen Ausbau europäischer (transnationaler) Infrastruktur und die weitere Entwicklung der Rahmengesetzgebung[4] insbesondere für den Strommarkt benötigt. Das im Koalitionsvertrag erwähnte Ziel einer „Europäischen Energieunion“ geht in diese Richtung. Es setzt jedoch voraus, dass Frankreich und Deutschland einen Kompromiss finden, wie sie in Zukunft mit ihren unterschiedlichen nationalen Energiestrategien umgehen werden. 

Auch die geopolitische Situation verlangt ein schnelles und entschiedenes Handeln der Europäer – dies gilt in erster Linie mit Blick auf die eigene Verteidigungsfähigkeit und die weitere Unterstützung der Ukraine. Hier wird es angesichts der bisher fehlenden oder unzulänglichen Instrumente auf EU-Ebene darum gehen, schnell auch neue Kooperationsformate zu entwickeln. Dabei wird Frankreich und Deutschland eine Schüsselrolle zukommen, unter anderem auch bei der Frage, wie (und welche) anderen Länder in eine Allianz mit einbezogen werden können. An den Diskussionen zur zukünftigen Rolle der NATO wird sich dann sehr schnell zeigen, ob Frankreich und Deutschland in der Lage sind, ihre unterschiedlichen Präferenzen zusammenzuführen und zu einem Konzept zu entwickeln, das die Zustimmung der anderen Europäer finden und Antworten auf die militärischen Herausforderungen geben kann.

Neben der Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt der Frage nach der Positionierung der Europäer bei der Ausgestaltung einer zukünftigen Welthandelsordnung hohe Priorität zu. Die vom amerikanischen Präsidenten ausgelösten Zollkonflikte sind dabei nur ein Teil der Problematik. Die EU selbst ist unentschieden, wie sie sich in Zukunft bei Freihandelsabkommen positionieren will. Auch hier liegt im Kern ein deutsch-französischer Konflikt, der sich derzeit am Umgang mit dem Mercosur-Abkommen festmacht.

2) Instabile Verhältnisse: Herausforderung durch Populisten

Allerdings hängt der Fortschritt bei all diesen Fragen und Entscheidungen nicht allein vom politischen Willen der neuen Bundesregierung oder gar dem Bundeskanzler an der Spitze der Regierung ab. Eine besondere Bedeutung kommt dem eingeschränkten Handlungsspielraum der Akteure aufgrund der instabilen politischen Verhältnisse in den EU-Mitgliedstaaten zu, insbesondere auch in Frankreich und Deutschland. 

Während die französische Verfassung in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Europapolitik, dem Präsidenten erhebliche Möglichkeiten einräumt, bleibt doch die Frage, über welchen Spielraum die französische Regierung angesichts der fehlenden parlamentarischen Mehrheit und des hohen Haushaltsdefizits verfügt, sobald es um kostspielige Kompromisse in den genannten Politikfeldern geht. 

Auch für die Bundesregierung gilt, dass der bisherige breite gesellschaftliche Konsens über die Europapolitik nicht mehr ohne weiteres gilt[5]. Mit 151 Abgeordneten ist die rechtsextreme und EU-feindliche AfD nach der CDU-CSU die zweitgrößte Fraktion im Bundestag; sie ist die größte Oppositionspartei. Gleichzeitig bleiben nach der zunächst gescheiterten Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler Zweifel, wie stabil sein Regierungsbündnis ist.

Die neue schwarz-rote Koalitionsregierung steht nun vor der Herausforderung, Deutschland in einem sich wandelnden Europa zu positionieren. Die europäischen Ambitionen der Regierung, insbesondere in Fragen der Außenpolitik, die Wiederbelebung der permanenten deutsch-französischen Kompromisssuche, die Bereitschaft, weitere Mitgliedstaaten in die Weiterentwicklung der EU einzubeziehen, sind zentrale Elemente dieser Neuausrichtung.

Der Paradigmenwechsel in der Schulden- und Investitionspolitik könnte dabei innenpolitisch den nötigen Handlungsspielraum geben, um europäisch offensiver aufzutreten. Allerdings bleiben andererseits die Auswirkungen des schuldenfinanzierten Wachstumspakets auf die EU-Wirtschaft als Ganzes abzuwarten, wobei viel davon abhängen wird, wie es der Bundesregierung gelingt, nationale Interessen mit europäischen Ambitionen zu verbinden. 


[1] S. insbesondere die Berichte von Enrico Letta (2024): “Much more than a market – Speed, Security, Solidarity. Empowering the Single Marker to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens” und Mario Draghi (2024). The Future of European Competitiveness—A Competitiveness Strategy for Europe


[2] « Aussi je propose en premier lieu à l’Allemagne un partenariat nouveau. Nous ne serons pas d’accord sur tout, ou pas tout de suite, mais nous discuterons de tout. » / „Daher schlage ich Deutschland in erster Linie eine neue Partnerschaft vor. Wir werden nicht in allem übereinstimmen oder nicht sofort übereinstimmen, aber wir werden über alles diskutieren.“, https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2017/09/26/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuel-macron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique


[3] S. zuletzt Andreas Wimmel (2024): „The German Vote“ im Rat der Europäischen Union, in: integration 3(2024), S. 192-206, DOI: 10.5771/0720-5120-2024-3-192


[4] Verordnung (EU) 2024/1747 vom 13. Juni 2024, und Richtlinie (EU) 2024/1711 vom 13. Juni 2024


[5] Wilson, Carole (2008). From ‘Permissive Consensus’ to ‘Constraining Dissensus’: A Polarizing Union?. Acta Politica - ACTA POLIT. 43. 26-49. 10.1057/palgrave.ap.5500206.

Publishing Director : Pascale Joannin

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