In die Zukunft gedacht: Französische und deutsche Unternehmer blicken auf das Jahr 2025

Economic and Monetary Union

Claire Demesmay,  

Barbara Kunz

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26. Januar 2015
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Demesmay Claire

Claire Demesmay

Head of a Franco-German programme at the German Council on Foreign Relations (DGAP) in Berlin.

Kunz Barbara

Barbara Kunz

Project leader with the "European Dialogue - Thinking Political Europe" at Genshagen Foundation.

In die Zukunft gedacht: Französische und deutsche Unternehmer blicken auf das J...

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Einleitung

Zwischen Dezember 2013 und Oktober 2014 fanden leitfadengestützte Interviews mit deutschen und französischen Unternehmern und Unternehmerinnen zu deren Visionen für das Jahr 2025 statt. Diese zeitliche Perspektive von zehn Jahren in die Zukunft erlaubt es, verschiedene Szenarien zu durchdenken, ohne sich gänzlich von der unmittelbaren Aktualität lösen zu müssen. Anders gewendet handelt es sich um einen Zeitraum, für den eher ein Weiterdenken als reine Fantasie gefragt ist. Die Befragten äußerten sich zur Zukunft der jeweiligen Gesellschaft, zur Europäischen Union sowie zum größeren globalen Kontext.

Diese Studie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch erlauben die etwas über 20 geführten Interviews einen relativ fundierten Einblick in das Denken von Unternehmern auf beiden Seiten des Rheins in Bezug auf die erwarteten Entwicklungen der nächsten zehn Jahre. Die Gesprächspartner vertraten zudem sehr unterschiedliche Unternehmen, von großen Konzernen mit Weltmarktführerschaft über den spezialisierten Mittelstand bis hin zum Handwerksbetrieb. Sie waren Vertreter der "traditionellen" Industrie oder von Startup-Unternehmen der Digital Economy. Die Befragten, die alle verantwortungsvolle Positionen in ihren Unternehmen bekleiden, werden in dieser Studie nicht namentlich genannt. Dafür bilden anonymisierte Zitate die in den Gesprächen vorgebrachten Überlegungen ab. Im Laufe der Interviews wurde deutlich, wo die Positionen der Interviewpartner von denen der Regierenden der jeweiligen Staaten abweichen (und wo nicht), und auch wie deutschfranzösische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zutage traten.

Auch wenn Unternehmer aus Deutschland und Frankreich sich im gleichen Maße um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sorgen und die fehlenden Strategien aus der Politik in ihren Ländern und in Europa beklagen, prägen nationale Traditionen nach wie vor viele ihrer Einstellungen. Die Trennlinie zwischen deutschen und französischen Denkweisen scheint dabei stärker ausgeprägt als die zwischen Wirtschaft und Politik.

Die Zukunftsangst ist in Frankreich nicht nur stärker als in Deutschland. Zusätzlich begleiten sie Zweifel und Fragen bezüglich des Wirtschaftsmodells sowie des Sozialsystems und der gesellschaftlichen Ordnung. Davon zeugen auch die vielen Berichte, welche die öffentliche Hand in jüngster Zeit erstellt oder in Auftrag gegeben hat. Diese Art von Untersuchungen gibt es in Deutschland dagegen kaum.[1] Obschon es in Frankreich eine Tradition der öffentlich bestellten Berichte gibt, kann die Vielzahl dieser Veröffentlichungen in den letzten Jahren als Zeichen eines großen Unbehagens gewertet werden. Dieses Unbehagen ist nicht nur den wirtschaftlichen und politischen Eliten eigen, sondern findet sich auch in der Bevölkerung. Wie eine Umfrage jüngst gezeigt hat, unterscheidet sich der Grad an Optimismus der französischen und der deutschen Bevölkerung sehr stark.[2]

In Frankreich, so der Gesamteindruck, blicken die Unternehmensführer besorgt und voller Fragen und Zweifel in die Zukunft. Ihnen ist bewusst, dass sie gerade eine Zeitenwende miterleben, die grundlegende Anpassungen des sozio-ökonomischen Modells erfordert. Indes nehmen sie die Lage als weniger schlimm wahr, als die vielen Veröffentlichungen über den "Niedergang Frankreichs" vermuten ließen. Frankreich habe auch Stärken und Unternehmen mit großem Potenzial, wenn nur die Rahmenbedingungen wieder stimmen würden. Alle wünschen sich etwa eine Senkung der Arbeitskosten sowie Bürokratieabbau. Allerdings herrschen auch erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der öffentlichen Hand, die notwendigen Reformen anzugehen. Dies erklärt einen gewissen Pessimismus.

Die Deutschen hingegen - oder zumindest die befragten Unternehmer und Unternehmensvertreter - blicken eher optimistisch in die Zukunft. Insbesondere im Vergleich mit den europäischen Nachbarländern steht Deutschland gut da und erfreut sich verhältnismäßig guter Wachstumsraten bei vergleichsweise niedriger

Arbeitslosigkeit. Allerdings ist auch Deutschland nicht frei von Zukunftssorgen. Die am häufigsten geäußerten Bedenken bleiben dabei relativ diffus: Furcht vor zunehmender Unsicherheit, abnehmender Planbarkeit und vor allem der Unfähigkeit der politischen Entscheidungsträger, Antworten auf die drängendsten Fragen der Zukunft zu finden.

Herausforderung Nummer eins für Deutschland, und gleichzeitig im Vergleich zu anderen europäischen Nationen deutsches Spezifikum, ist aus Sicht der befragten Unternehmer der demografische Wandel - und das über die arbeitsmarktpolitische Dimension hinaus. Die alternde und gleichzeitig schrumpfende Gesellschaft werde sich ebenfalls auf Infrastruktur und Wohnverhältnisse, auf den immer dünner bevölkerten ländlichen Raum sowie auf die politischen Machtverhältnisse im Land auswirken. Vor diesem Hintergrund ist auch die breit geäußerte Zustimmung oder gar Forderung nach mehr Einwanderung nicht verwunderlich. Die Hauptsorge der Franzosen ist im Vergleich dazu von fast philosophischer Natur: die Angst um das republikanische Modell. Dieses soll immer noch den Kitt der französischen Gesellschaft bilden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit lautet die Devise der Republik, und gerade Chancengleichheit ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Baustein. Sie zu schaffen ist Aufgabe des Schul- und Bildungssystems. Doch schon Monate vor den Anschlägen von Paris in Januar 2015 hatten viele Interviewpartner den Eindruck, dass der republikanische Konsens bröckelt. Gemeint ist damit der Wille aller Bürger, sich auf die republikanischen Werte zu einigen. Immer sichtbarer werden die sozialen und kulturellen Unterschiede, und die Republik tut sich in der Tat zunehmend schwer, das Versprechen von Einheit und Chancengleichheit einzulösen. In einer Gesellschaft, in der die kulturelle Vielfalt immer sichtbarer wird, hängt die Sorge um den Grundstock des französischen Gesellschaftsvertrags auch mit Fragen nach dem Erhalt der französischen Identität zusammen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die zweite große Sorge der französischen Unternehmer dem sozialen Zusammenhalt gilt. Auch wenn die Befragten die Massenarbeitslosigkeit, und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, nur selten explizit nannten, war die Furcht vor einer Spaltung des Landes in Privilegierte und weniger Privilegierte deutlich spürbar. Während die einen - gut bezahlte Arbeitnehmer und Staatsbedienstete - Zugang zu Wissen, Technologien und Finanzierungsmöglichkeiten haben, werden die anderen - Arbeiter und kleine Beamte mit geringer sozialer Absicherung - oft abgehängt und sehen sich mit den Dynamiken des globalen Kapitalismus konfrontiert. Auch um die Mittelschicht sorgen sich viele. Umso größer sind auch hier die Erwartungen an das Bildungssystem als ausgleichenden Faktor.

Der soziale Zusammenhalt der französischen Gesellschaft steht in engem Zusammenhang mit dem weiteren großen Thema, das die französischen Unternehmer umtreibt: die Wirtschaftskrise und die Frage, wie sich französische Unternehmen für die Zukunft aufstellen können. Dass der Staat dafür die richtigen Rahmenbedingungen schaffen kann (oder will), war dabei nicht für alle gegeben. Einig waren sich zwar fast alle, dass die französische Wirtschaft eine Reihe Trümpfe in ihren Händen hält, die es auszuspielen gilt. So ist Frankreich in nicht wenigen Branchen Weltmarktführer; die Industrie profitiert von niedrigen Energiepreisen und soliden Infrastrukturen. Wichtig erscheint es jedoch, die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte zu stoppen, die in erster Linie Start-ups betrifft, und Innovationen gezielter zu fördern. Einige beklagten zudem die Schwerfälligkeit der französischen Industrie, die nach wie vor große Unternehmen beherrscht. Auch ausbleibenden Neuerungen bei strategischen Entscheidungen in der Industriepolitik galt die Sorge mancher Befragter. Viele forderten mehr Mut zum Risiko.

In Deutschland folgen nach dem demografischen Wandel die Bereiche Energie und Energiepolitik als die am häufigsten genannten zukunftsrelevanten Themen: Die Energiewende gilt als extrem ehrgeiziges Projekt mit großer innenpolitischer Sprengkraft und potenziell erheblichen Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik. Gleichzeitig sei ein Umdenken in der Klima- und folglich auch Energiepolitik angesichts des Klimawandels wie auch geopolitischer Faktoren notwendig. Zudem seien zwar die Herausforderungen immens, doch Lösungen würden mit Sicherheit zu "echten Exportkrachern".

Einig hingegen waren sich französische und deutsche Unternehmer im Hinblick auf die Notwendigkeit von Strategien und Visionen - die sie jedoch durch die Bank vermissten. Im Hinblick auf die "Zukunftsfestigkeit" der Gesellschaft standen die Befragten der Politik jeweils eindeutig skeptisch gegenüber. Obwohl die großen Herausforderungen der Zukunft bekannt seien, passiere wenig bis gar nichts. Was fehle, so hörte man auf beiden Seiten des Rheins, sei ein gesellschaftlicher Dialog sowie Ehrlichkeit seitens der Politik im Umgang mit aufkommenden Fragen. Allerdings seien die Regierungen gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs, denn die mangelnde gesellschaftliche Projektion sei nicht ihnen alleine zuzuschreiben. Auch die gesellschaftlichen Eliten seien hier gefordert. Interessant ist im Übrigen, dass gerade Befragte aus Deutschland mehrfach betonten, man dürfe sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen oder gar - angesichts der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage - überheblich werden.

Grenzüberschreitende Einigkeit herrschte in weiten Teilen auch in Bezug auf die Europäische Union. Der gemeinsame Markt ist Alltag und nicht mehr wegzudenken. Die Eurokrise und ihre vielfältigen Auswirkungen trieben die Gesprächspartner genauso um wie die eher grundsätzliche Frage nach dem Erhalt und der weiteren Ausgestaltung der europäischen Integration. Die Idee von Europa als Friedensprojekt bleibt präsent und erfährt hohe Wertschätzung - gepaart gerade vor diesem Hintergrund mit der Sorge um das Erreichte.

Insgesamt spielte Europa daher in den Interviews gleich in zweierlei Hinsicht eine große Rolle: Zum einen ging es konkret um die Krise der Eurozone mit all ihren Konsequenzen, bis hin zu institutionellen Debatten und Fragen der vertieften Integration (Stichwort Haushaltspolitik und Fiskalunion). Insbesondere französische Unternehmer sehnten sich in diesem Kontext nach einer politischen Union, die auf dem Weltparkett glaubwürdig mit einer Stimme sprechen und gegebenenfalls über militärische Kompetenzen verfügen würde. Zum anderen ging es aber auch um "Brüssel" als einen zentralen Akteur, welcher aktiv an der Schaffung der Rahmenbedingungen beteiligt ist, unter denen die Unternehmen agieren - sofern die EU-Kommission diese Rahmenbedingungen nicht sogar ganz direkt schafft, wie beispielsweise in der Wettbewerbspolitik. Insbesondere in Frankreich stößt die Politik der EU auf Kritik. Sie habe beispielsweise noch nicht verstanden, dass unternehmerisches Handeln längst nicht mehr nur auf Europa begrenzt sein sollte und daher die Schaffung europäischer "Champions" für den Weltmarkt notwendig sei - auch wenn dabei europaweite Monopole entstünden. Durch die Interviews mit französischen Unternehmern zieht sich die Forderung nach einer voluntaristischen Industriepolitik auf EU-Ebene wie ein roter Faden. So findet sich im Wirtschaftsbereich ein Muster des politischen Denkens wieder, das die französische Politik seit Jahrzehnten und parteiübergreifend immer wieder ins Spiel bringt, womit sie insbesondere in Deutschland auf Unverständnis stößt.

Zwischen Zufriedenheit mit und Zweifel an der Nachhaltigkeit des deutschen Modells

Die Deutschen - oder zumindest die befragten Unternehmer und Unternehmensvertreter - blicken relativ optimistisch in die Zukunft. Dafür gibt es derzeit auch gute Gründe. Insbesondere im Vergleich mit den europäischen Nachbarn steht das Land gut da und erfreut sich verhältnismäßig guter Wachstumsraten bei vergleichsweise niedriger Arbeitslosigkeit. "Deutschland ist stark"

– der Slogan von Angela Merkels CDU aus dem Bundestagswahlkampf 2013 - scheint also im wirtschaftlichen Bereich voll zuzutreffen. Insofern lässt sich die Devise durchaus als ein "Weiter so mit mehr oder weniger großen Nachjustierungen" zusammenfassen. Demografischer Wandel, Eurokrise, Klimawandel oder Energiewende haben selbstverständlich ihren Platz im Bewusstsein der Befragten. Im Hinblick auf die eigene Lage und die eigenen Zukunftsaussichten sind sie jedoch fast ausnahmslos guter Dinge.

Sorgen der Befragten bezüglich der Zukunft betreffen insbesondere die "Zukunftsfestigkeit" der gesellschaftlichen und europäischen Ebenen. Die größte Sorge bleibt dabei relativ diffus und lässt sich wie folgt beschreiben: Eine zunehmende Unsicherheit in Anbetracht der abnehmenden Planbarkeit des unternehmerischen und politischen Handels angesichts immer unübersichtlicherer Rahmenbedingungen und vor allem der Unfähigkeit der politischen Entscheidungsträger, Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu finden. Dass es mit den heutigen Rezepten, so gut diese heute auch funktionieren mögen, auf ewig nicht weitergehen kann, scheint Konsens unter den Interviewpartnern zu sein. Dafür ändern sich die Gegebenheiten auf allen Ebenen zu stark und zu schnell. Wenn schon keine weitreichende Strategie zur Gestaltung der Zukunft existiert, so müssten doch wenigstens Konzepte zur Anpassung an konkrete Herausforderungen gefunden werden. Und obwohl diese drängenden Zukunftsfragen im Großen und Ganzen als bekannt gelten, so scheint es doch an Ansätzen zu fehlen, um ihnen konkret zu begegnen. Aus Sicht der Befragten steht das politische Establishment hier in erster Linie in der Bringschuld, jedoch auch "die Eliten" in einem weiteren Sinne, also Intellektuelle, Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Akteure. Die Klage über die "Visionslosigkeit" der Politik zog sich jedenfalls wie ein roter Faden durch alle in Deutschland geführten Interviews, mit mal mehr und mal weniger Vehemenz.

Interne Herausforderungen

Wenngleich sich alle Interviewten einig sind, dass Deutschland "gut dasteht" ist doch gleichzeitig klar, dass dies einerseits eine Momentaufnahme ist und andererseits auch ein Vergleich mit anderen europäischen Staaten, denen es derzeit wirtschaftlich schlechter geht.

In einigen Jahrzehnten kann sich die Lage daher bereits schon wieder völlig anders darstellen - und nicht notwendigerweise besser als heute. Sich auf der Einschätzung, Deutschland stehe gut da, auszuruhen, kommt folglich nicht in Frage.

Antworten auf den demografischen Wandel finden

"Interne" Herausforderung Nummer eins, und gleichzeitig im Vergleich zu anderen "großen" europäischen Nationen deutsches Spezifikum, ist aus Sicht der befragten Unternehmer der demografische Wandel. Bereits heute lässt sich die Personalplanung in vielen Betrieben nicht mehr wie gewünscht umsetzen, mangels ausreichend qualifizierter - und motivierter - Arbeitskräfte. Dieses Problem dürfte sich in naher Zukunft noch verschärfen. Hinzu komme, so eine Befragte, dass die jüngere Generation recht offensichtlich ein anderes Verhältnis zum Thema Karriere habe. Hohe Gehälter und wichtige Posten stünden für die Jüngeren nicht mehr zwangsläufig im Vordergrund. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Freizeit und Beruf sowie Zufriedenheit im Job hätten für jüngere Fachkräfte einen immer höheren Stellenwert. Auch dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Anforderungen an die Personalpolitik der Unternehmen, wenn sie ihre Mitarbeiter langfristig an sich binden wollen. Um als attraktiver Arbeitgeber zu gelten, müssen viele Firmen umdenken und diesen anderen Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter entgegenkommen.

Allerdings verweisen alle Befragten ausdrücklich darauf, dass der demografische Wandel weit mehr als ein arbeitsmarktspezifisches Problem darstellt und künftig darstellen wird. Vielmehr gehe es um die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme als Ganzes, um den "Generationenvertrag". Im gleichen Zusammenhang verwundert es dann auch nicht, dass die Rentenpolitik der Großen Koalition äußerst kritisch gesehen wird und mehrere Interviewpartner sie rundheraus als "Katastrophe" und "reine Klientelpolitik" bezeichneten. Angesichts der drohenden Auswirkungen des demografischen Wandels sei die abschlagsfreie Rente mit 63 das vollkommen falsche Signal. Bis zum Jahr 2030 wird die Absenkung des Rentenalters 60 Milliarden Euro kosten, zulasten der jüngeren Generationen. In Wirklichkeit stehe die Gesellschaft vor der großen Herausforderung, einen "neuen Umgang mit Arbeit im Alter" finden zu müssen. Dazu gehört auch, dass die Menschen länger arbeiten werden müssen, um das Rentensystem zu erhalten.

Über den Arbeitsmarkt hinaus werde die alternde und gleichzeitig schrumpfende Gesellschaft eine Reihe

Auswirkungen haben: auf Infrastruktur und Wohnverhältnisse, auf den immer dünner bevölkerten ländlichen Raum - insbesondere im Osten Deutschlands - sowie auch auf die politischen Machtverhältnisse im Land. Vor diesem Hintergrund ist die breit geäußerte Zustimmung oder gar Forderung nach mehr Einwanderung nicht verwunderlich. Dies erfordere indes eine durchdachte(re) Zuwanderungs- und Integrationspolitik. Einige Befragte sprachen sich auch für eine Koordination (wenn nicht sogar Steuerung) auf europäischer Ebene aus. Offensichtlich wird bereits beim Thema "demografischer Wandel", dass aus Sicht der Befragten zwar alle offenen Fragen bekannt sind, die Politik es jedoch versäumt, diese auch zu beantworten. Zwar gebe es immer wieder "Demografie-Gipfel" und ähnliche Projekte, doch an einer strategischen Herangehensweise an die Problematik fehle es vollkommen.

Die Energiewende begleiten

Nach dem demografischen Wandel folgten als am häufigsten genannte Themen die Bereiche Energie und Energiepolitik, die ebenfalls vielfach als Schlüsselbereiche genannt wurden. Den Gesprächspartnern waren die vielen Facetten des Themas durchaus bewusst: Die Energiewende gilt als extrem ehrgeiziges Projekt mit großer innenpolitischer Sprengkraft und erheblichen (potenziellen) Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik. Gerade im Vergleich zu Frankreich sind die Energiekosten in Deutschland deutlich höher, was für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen natürlich eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig sei, so eine Reihe der Befragten, ein Umdenken in der Klima- und folglich auch Energiepolitik angesichts des Klimawandels mit seinen immer deutlicher zutage tretenden Auswirkungen ohne Alternative. Dies gelte für Deutschland ebenso wie für Europa. Vielfach verwiesen die Befragten zudem auf die schwierige geopolitische Lage und die Abhängigkeit Deutschlands und Europas von Energieimporten. Gleichzeitig jedoch stand für viele Interviewpartner das Potenzial im Vordergrund, das durch eine letztendlich ohnehin als unvermeidlich angesehene "neue" Energiepolitik freigesetzt würde: Zwar seien die Herausforderungen immens, doch Lösungen dafür würden mit Sicherheit zu "echten Exportkrachern". Somit gelte es, jetzt auf Innovation im Bereich Energie und Energieeffizienz zu setzen, um sich einen langfristigen technologischen Vorsprung zu sichern. Wie allerdings in einigen Gesprächen anklang, könnte dies durchaus mit mehr Mut und Überzeugung aufseiten der Politik geschehen.

Zudem wünschte man sich mehr Unterstützung durch die Regierung, insbesondere in den Bereichen Forschung und Entwicklung. Auch die Europäische Union (unter anderem mit ihren Programmen zur Forschungsförderung) wurde in diesem Kontext mehrfach erwähnt (siehe unten (Europa und die Welt)).

Eine politische Vision entwickeln

"Mut und Überzeugung" sind indes zwei Qualitäten, die die Befragten auch in einem wesentlich breiteren Kontext durch die Bank vermissten. Im Hinblick auf die "Zukunftsfestigkeit" der bundesrepublikanischen Gesellschaft standen die Gesprächspartner der Politik eindeutig skeptisch gegenüber. Der Bundesregierung, und insbesondere der Bundeskanzlerin, warfen mehrere Interviewpartner einen "Mangel an Visionen" und "Strategielosigkeit" vor. Obwohl die großen politischen Fragen der Zukunft bekannt seien - der demografische Wandel, der Klimawandel, die Frage nach einer nachhaltigen Energiepolitik - passiere "wenig bis gar nichts", um diese Herausforderungen anzugehen. Was dringend fehle, sei ein gesellschaftlicher Dialog und auch Ehrlichkeit der politisch Verantwortlichen im Umgang mit entstehenden Fragen. "Heiße Themen" würden weitgehend ignoriert; seitens der Kanzlerin gebe es fast grundsätzlich keine klare Positionierung. "Wir, und vor allem die Bundeskanzlerin, fahren auf Sicht. Da steckt keine langfristige Strategie dahinter."

Allerdings sei die Kanzlerin gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs, denn die mangelnde gesellschaftliche Projektion sei nicht nur ihr alleine zuzuschreiben. In Deutschland - wie auch anderswo - seien die Eliten gefordert, konkrete Ideen für die Zukunft zu erarbeiten und vorzulegen, um sie schließlich in der Gesellschaft zur Debatte zu stellen. In der Regierung gebe es indes "immer weniger Leute, die wirtschaftliche Prozesse verstehen", so wie auch insgesamt der Dialog zwischen Politik und Wirtschaft verbesserungswürdig sei. Stattdessen fahre man nur "auf Sicht". Und auch die Eliten versagten auf der ganzen Linie und "liefern nicht". Der so entstehende "gesellschaftliche Unterdruck" stelle ein großes Problem dar - insbesondere, da viele der ungelösten Zukunftsfragen ihre volle Dynamik erst noch entfalten würden. Diesen drei kritischen Feldern - demografischer Wandel, Energiewende und generelle "Visionslosigkeit" der Politik - steht jedoch ein ausgeprägtes Bewusstsein der befragten Unternehmer und Manager für die Stärken der Bundesrepublik gegenüber. Immer wieder hoben sie den im deutschen Wirtschaftsleben stark ausgeprägten "Nachhaltigkeitsgedanken" im weitesten Sinne positiv hervor, das heißt der Wille, stets langfristig tragfähige Lösungen zu suchen. Die Bereitschaft gerade der Sozialpartner, den Gemeinschaftsgedanken in den Mittelpunkt zu stellen, "sich Kosten und Gewinne zu teilen", wurde vielfach als große deutsche Stärke genannt und gilt folglich als ein Pfund, mit dem es auch künftig zu wuchern gilt. Je mehr Erfahrung die Gesprächspartner aus anderen nationalen Zusammenhängen als dem deutschen mitbrachten, desto deutlicher trat dies im Übrigen zutage. Dies bezieht sich insbesondere auf die vorhandene Dialogbereitschaft in der deutschen Gesellschaft, die anderswo - sei es in Europa oder darüber hinaus - in ähnlich ausgeprägter Form selten anzutreffen sei. Das "rheinische Modell", und insbesondere die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern, bewerteten die Befragten also durchgehend positiv. Und nicht nur das: Für die allermeisten Gesprächspartner ist dies zudem ein Erfolgsmodell, das exportiert werden sollte. Gerade im Vergleich zu Frankreich habe sich das konsensorientierte deutsche System als deutlich sinnvoller erwiesen. Ähnliches gilt im Übrigen für die duale Ausbildung, die ebenfalls vielfach als exportwürdig erachtet wurde.[3]

Europa und die Welt

Die Errungenschaften der europäischen Integration

Während innerdeutsch vor allem auf die Gefahr verwiesen wird, zu hohe Zufriedenheit mit dem Status quo könne der engagierten Auseinandersetzung mit kommenden Herausforderungen im Wege stehen, äußerten die Gesprächspartner in Bezug auf die europäische Ebene eher Angst um das Erreichte. Ganz allgemein stößt die Idee des geeinten Europas auf große Zustimmung; das "europäische Lebensmodell" gilt als attraktiv und bewahrenswert. Gleiches gilt für den europäischen Markt, der nicht mehr wegzudenken sei. Die Eurokrise und ihre Auswirkungen

– die sie zum Teil am eigenen Leib beziehungsweise in ihren Unternehmen spüren - trieb die Gesprächspartner genauso um wie die eher grundsätzliche Frage, wie die europäische Integration bewahrt und weiter ausgestaltet werden kann. Insgesamt spielte Europa daher in den geführten Interviews gleich in zweierlei Hinsicht eine große Rolle: Zum einen ging es um die Krise der Eurozone mit all ihren Konsequenzen, bis hin zu institutionellen Debatten und Fragen der vertieften Integration (Stichworte Haushaltspolitik und Fiskalunion). Zum anderen ging es aber auch um "Brüssel" als einen zentralen Akteur, welcher aktiv an der Schaffung der Rahmenbedingungen beteiligt ist, unter denen die Unternehmen agieren sofern die EU-Kommission diese Rahmenbedingungen nicht sogar ganz direkt vorgibt, wie beispielsweise in der Wettbewerbspolitik.

Die Einschätzungen bezüglich der Krise der gemeinsamen Währung gingen unter den Befragten auseinander, sodass hier kein eindeutiger Trend auszumachen ist. Für die einen war "das Thema gegessen", andere waren der Auffassung, die Krise sei noch lange nicht ausgestanden und suchen unter anderem deswegen Erfolg auf weiter entfernten Märkten. Ebenfalls gemischt waren die Meinungen in Bezug auf das Krisenmanagement der europäischen Institutionen und Regierungen. Angesichts der Zuversicht in Bezug auf die deutsche Lage (siehe oben) entstand nicht der Eindruck, dass die Befragten unmittelbare Gefahr für die eigene wirtschaftliche Situation sahen.

"Südeuropa wird gerade komplett abgehängt."

Jenseits der unmittelbaren Währungskrise mit ihren konkreten ökonomischen Auswirkungen galt die Sorge der Gesprächspartner indes der Bewahrung sowie durchaus auch dem Ausbau der europäischen Integration. Die Idee von Europa als Friedensprojekt bleibt präsent und erfährt hohe Wertschätzung - gepaart gerade vor diesem Hintergrund mit der Sorge um das Erreichte. So steht denn auch nicht das rein deutsche Interesse im Vordergrund, wenn Befürchtungen geäußert wurden, die aktuelle Krise könne Zentripetalkräfte freisetzen, die das europäische Projekt gefährden. Insbesondere das wachsende Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union gab Anlass zu Bedenken, und das beileibe nicht nur, weil Absatzmärkte wegbrechen.

"Deutschland darf nicht arrogant werden."

"Wir können uns keine national-chauvinistischen Ausflüge leisten, wie sie sich manche Politiker im Zuge der Eurokrise erlaubt haben."

Explizit kritisch sahen die Befragten in diesem Zusammenhang Frankreich. Dass das Land derzeit der "kranke Mann Europas" sei, war ihre relativ einheitliche Sicht. Allerdings betonten viele, dass Frankreich wesentlich mehr Potenzial habe als dem Land derzeit in der öffentlichen Meinung zugeschrieben werde. Doch auch wenn es zwar wirtschaftlich besser dastehe als beispielsweise Spanien oder Italien, drohten in den folgenden Jahren massive Probleme angesichts der Unfähigkeit des Präsidenten François Hollande, als notwendig angesehene Reformen anzugehen. Frankreich laufe somit Gefahr, schlimmstenfalls ganz Europa mit in den Abgrund zu ziehen, so die Einschätzungen.

Andere Gesprächspartner wiederum sind optimistischer und verweisen auf den "einenden Druck" zu institutionellen Reformen und Maßnahmen auf europäischer Ebene, der bislang auch immer "funktioniert" habe. Letzten Endes erhoffen sie sich so positive Auswirkungen der Eurokrise. Allerdings machten sich einige der Gesprächspartner durchaus Gedanken um die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union. Mehr als einmal äußerten die Befragten die Sorge, dass deutsche "Arroganz" oder auch "Unreife" im Umgang mit der eigenen Stärke zum Problem werden könnte.

Es herrscht also durchaus ein Bewusstsein dafür, dass die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa das europäische Projekt gefährden könnten - und der relative deutsche Erfolg sich in diesem Zusammenhang auch als Hypothek erweisen könnte. "Als Klassenprimus verschmäht" zu werden - wie es in einem Interview auf den Punkt gebracht wurde - scheint ein wenig erstrbenswertes Schicksal. Tendenzen in diese Richtung seien im europäischen Geschäftsalltag allerdings bereits spürbar. In diesem Sinne ist also nicht nur die Sorge um das Erreichte in Sachen Institutionen und Binnenmarkt offensichtlich, sondern ebenfalls eine gewisse Angst um die Errungenschaften der Völkerverständigung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

"Die größte Gefahr besteht in der Abschottung Europas."

In Bezug auf die Leistung "Brüssels" kamen mehrere, zum Teil auch widersprüchliche, Aspekte zur Sprache. Zum einen kommt immer wieder der - inzwischen als klassisch anzusehende - Vorwurf der Überregulierung und die Ansicht, dass "Brüssel" sich zu sehr "einmische". Andererseits werden aber auch eine ganze Reihe Bereiche genannt, in denen die EU "mehr" tun könnte und sollte, nicht zuletzt für die Bereiche Forschung und Entwicklung, das heißt Erschließung neuer Wirtschaftszweige mit Hilfe innovativer Technologien. Dies gilt insbesondere für den gesamten Bereich Klima und Energie (siehe oben). Doch viele Befragte erwarten nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von der Europäischen Union bessere Unterstützung bei der Unternehmensgründung. Ein wichtiges Thema ist die europäische Wettbewerbspolitik. Hier ist es insbeson-dere die Frage nach dem richtigen Referenzrahmen, der die Interviewten umtrieb: Sollte nicht auch die EU-Kommission anfangen, die Welt als Aktionsfeld zu sehen, statt nur auf den europäischen Binnenmarkt zu schauen?

Deutschland profitiert von der Globalisierung

Im Kontext einer weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung, die auch für kleinere Mittelständler zum ganz normalen Alltag gehört, sehen die befragten Unternehmer und Manager Deutschland durch die Bank als "Globalisierungsgewinner". Für die meisten Befragten liegt die (wirtschaftliche) Zukunft außerhalb Europas; die globalen Märkte sind interessanter als der deutsche oder auch europäische Markt. Dies ist nicht nur der Eurokrise geschuldet.

Dennoch betonten mehrere Gesprächspartner, dass sie sich gerade angesichts der Krise hin zu neuen Märk

"Unser Spielfeld ist die Welt."

"Über den Preis haben wir auf dem Weltmarkt keine Chance. Wir müssen auf Qualität setzen, auf Made in Germany."

ten außerhalb Europas orientieren. Global zu agieren ist zunehmend "normal"; viele der Befragten gaben an, Maßnahmen zur Vorbereitung (ihrer selbst sowie der Mitarbeiter) auf bestehende und zukünftige internationale Geschäftskontakte zu ergreifen: beispielsweise Sprachkurse oder interkulturelles Training. Dies allerdings nicht immer mit uneingeschränktem Erfolg, wie einige mitunter anmerkten. So verwundert es auch wenig, dass gerade Interviewpartner mit größerer Auslandserfahrung sich mehr deutsche Weltläufigkeit wünschten. Deutsche müssten lernen, interkulturell zu kommunizieren, insbesondere die Generation 50 Plus. Ein mit der französischen sowie der deutschen Unternehmenskultur vertrauter Unternehmer sprach sogar von "Endogamie" bezüglich der regionalen Verankerung der großen deutschen Unternehmen. Er befürchtete, dass damit die Fähigkeit, externen Risiken in all ihrer Komplexität zu begegnen, gefährdet sein könnte. Zwar gelänge die interkulturelle Perspektive Unternehmen etwas besser als der Politik, doch auch hier gebe es - allen Englischkursen und dem Interesse für weit entfernte Märkte zum Trotz - zum Teil noch erheblichen Nachholbedarf. Insgesamt jedoch schätzten alle Befragten ihre Aussichten auf den internationalen Märkten als gut bis sehr gut ein. Die klassische "deutsche Wertarbeit" habe nach wie vor Konjunktur, und dank der Qualität könne man auch in Zukunft gegen billigere - aber eben auch qualitativ unterlegene - Wettbewerber bestehen. Es ist somit die Qualität deutscher Produkte, die nach wie vor den Grundstein des deutschen Exporterfolgs ausmacht. "Made in Germany" ist eine Marke, die aktiv und verstärkt genutzt wird. Trotz steigender Herstellungskosten und möglicherweise Produktionsverlagerungen in die Kundenstaaten gelte es, sie zu bewahren. Ein Unternehmer fragte sich indes, worin der Sinn des "Made in Germany" in einer Welt bestehe, in der immer mehr Produkte in China entworfen, hergestellt und konsumiert würden. Er endete mit der Warnung, dass das Image der deutschen Qualität nur nachhaltig sein könne, wenn es wirklich gerechtfertigt sei. Eine eher geringe Rolle spielte in den Gesprächen im Übrigen das transatlantische Verhältnis. Die NSA-Affäre wurde größtenteils schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Das angedachte Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA - Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP - stieß dabei auf geteiltes Interesse; zur Sprache kam es generell nur auf Nachfrage. Die meisten Gesprächspartner konnten für sich selbst und ihre Aktivitäten keine größere Relevanz einer transatlantischen Freihandelszone erkennen, andere glauben ohnehin nicht (mehr) an einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Dynamischere Märkte als der nordamerikanische stehen im Vordergrund. Globale Herausforderungen wie der Klimawandel mit all seinen drastischen Auswirkungen (in Südostasien und allen anderen Regionen, die im Gegensatz zu Europa massiv und unmittelbar betroffen sind und daher ganz andere Anpassungsmaßnahmen treffen müssen), internationale Migrationsströme und Konflikte zwischen Staaten spielten in den Interviews ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Zwar war den Befragten durchaus bewusst, dass es auf globaler Ebene schwerwiegende Probleme mit (potenziell) weitreichenden Folgen gibt. Diese betrachteten sie größtenteils mit großer Sorge. Allerdings scheinen diese Dinge - geografisch wie mental - weit weg vom starken Deutschland zu sein, sodass sie keinen unmittelbaren Einfluss entfalten. Dies gilt auch für den Klimawandel, der zwar durchaus auch hierzulande spürbar ist. Doch ist es eher die Energiepolitik der Bundesregierung - die nur bedingt etwas mit dem Klimawandel zu tun hat –, die die Befragten umtrieb und die zum Teil direkte Konsequenzen für deren Unternehmen haben wird.

Zukunftssorgen und Angst vor Spaltung in Frankreich

Aus den in Frankreich geführten Gesprächen entsteht vor allem ein Gesamteindruck: Die Unternehmer und Unternehmensvertreter plagen große Zukunftssorgen, Zweifel und Fragen. Stark ausgeprägt ist das Bewusstsein, eine Zeitenwende mitzuerleben, ebenso wie die Überzeugung, Frankreich könne zukünftig nur dann Erfolg haben, wenn es sein sozio-ökonomisches System massiv anpasst. Die technologischen Veränderungen und das beginnende digitale Zeitalter faszinierten die Gesprächspartner dabei besonders. Gleichzeitig sahen sie diese Veränderungen oft als Ausgangspunkt tiefgreifenden Wandels, welche auch Instabilität mit sich bringen und Auswirkungen sowohl auf die Gestaltung der Beziehungen innerhalb der Gesellschaft als auch auf das Machtgleichgewicht auf internationaler Ebene haben könnten.

Indes zeugen die Gesprächsergebnisse kaum von der depressiven Grundstimmung, die - seit Jahren - unzählige Publikationen über den "Niedergang Frankreichs" festzustellen glauben. Regelmäßig betonten die Befragten die Vorzüge, über die Frankreich wie auch Europa in der globalisierten, durch immer intensiveren Handel und den Wettlauf um Wettbewerbsfähigkeit geprägten Welt verfügen. Insbesondere die Solidität und Leistungsfähigkeit französischer Unternehmen hoben sie dabei hervor. Selbige seien, sofern sie wieder in einem günstigeren steuerlichen und regulatorischen Rahmen handeln könnten, durchaus in der Lage, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Allerdings zeigten sich die Befragten ziemlich skeptisch in Bezug auf die Fähigkeit der öffentlichen Hand, die notwendigen Reformen schnell genug in die Tat umzusetzen. Dies hat einen gewissen Pessimismus zur Folge.

Auffallend ist, dass sich alle für diese Studie Befragten Gedanken über eine drohende Fragmentierung machen. Zur Sprache kam diese Sorge häufig im Zusammenhang mit dem geschwächten sozialen Zusammenhalt in Frankreich, jedoch auch in Bezug auf die Europäische Union, die man von nationalen Egoismen bedroht sieht. Vielfach betonte man, wie wichtig es sei, den sozialen Zusammenhalt und Solidarität zu bewahren - auf nationaler wie europäischer Ebene. Die Erwartungen gegenüber der Europäischen Union waren dabei hoch. Denn auch wenn Kritik gegenüber der Brüsseler Politik weit verbreitet ist, hoben die Interviewten häufig hervor, dass Frankreich eine gezielte und voluntaristische europäische Politik brauche, um gut für die Zukunft aufgestellt zu sein.

Derartige Bedenken, was die Spaltung der Gesellschaft angeht, teilen beileibe nicht nur Unternehmer. Auch in administrativen Kreisen geht man solchen Überlegungen nach. Expertenkommissionen untersuchen die gegenwärtige Lage sowie Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Sachverständige erstellen Berichte; im Auftrag der öffentlichen Hand zeichnen auch Unternehmer solche Studien. Die Ergebnisse dieser Analysen zur Zukunft des Landes offenbaren eine tiefsitzende Unsicherheit. Zum einen bezieht die vorliegende Studie drei dieser Berichte[4] mit ein, weil wichtige Wirtschaftsakteure daran beteiligt waren, etwa Anne Lauvergeon, die ehemalige Vorstandsvorsitzende von Areva, oder Louis Gallois, ehemaliger EADS-Chef. Zum anderen entsprechen die darin vorgenommenen Analysen größtenteils den Einschätzungen der für die vorliegende Studie befragten Unternehmer und Unternehmensvertreter. Selbstverständlich sind die Berichte, für die es in Deutschland kein Äquivalent gibt, detaillierter und umfassend belegt, zugleich bestätigen sie aber die Gesprächsergebnisse aus den Interviews.

Interne Herausforderungen

Befragt nach den größten französischen Herausforderungen bis zum Jahr 2025 nannten die Gesprächspartner folgende Themenkomplexe: den sozialen Zusammenhalt zu erhalten, die Staatsschulden entschlossen wieder in den Griff bekommen und Reformen durchzuführen sowie wieder zu einem Wirtschaftsmodell zurückzufinden, in dem Arbeitsplätze geschaffen werden. Alle hängen mit der Erkenntnis zusammen, dass Frankreichs sozioökonomisches System strukturelle Schwächen aufweist - und dass diese Schwächen in den letzten Jahren größer geworden sind und schnell korrigiert werden müssen, um die Zukunft des Landes nicht aufs Spiel zu setzen. Die Mehrzahl der Befragten stellte dabei die Prinzipien, die diesem System zugrunde liegen, nicht in Frage. Vielmehr wünschten sie sich, dass diese an die heutigen Bedingungen angepasst werden, um auf diese Weise wieder voll zum Tragen kommen zu können.

Das soziale Gefüge wiederherstellen

Wie ihre deutschen Kollegen machten sich auch die französischen Befragten Gedanken über die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur. Im Gegensatz zu Deutschland ist die Alterung der Gesellschaft jedoch kaum ein Thema. Der Faktor "demografische Entwicklung" wurde zwar regelmäßig erwähnt, auf französischer Seite allerdings eher als Stärke denn als potenzielles Risiko. In diesem Punkt war der Vergleich mit Deutschland die Regel: Ebenso wie der Bericht der "Kommission für Innovation", die von Anne Lauvergeon geleitet wird, erwähnten auch viele Gesprächspartner in den Interviews nicht ohne einen gewissen Stolz, dass es im Jahr 2030 mehr Franzosen als Deutsche geben werde. Bezeichnend ist, dass der einzige Gesprächspartner, für den die Alterung der französischen Gesellschaft eine wichtige Frage war, im Bereich der sogenannten Silver Economy arbeitet, also jenem Wirtschaftszweig, der sich auf die Anforderungen und Bedürfnisse älterer Menschen ausrichtet.

Geradezu von selbst kam indessen ein anderes Thema zur Sprache: Die Frage, wie der soziale Zusammenhalt bewahrt werden kann sowie die zunehmenden Schwierigkeiten, ein befriedigendes Maß an gesellschaftlicher Solidarität zu garantieren, spielten für die französischen Befragten eine große Rolle. Solidarität ist dabei auf mehreren Ebenen zu verstehen, von Solidarität unter Individuen und unter den Generationen bis hin zur Solidarität zwischen den verschiedenen französischen Regionen oder auch auf europäischer Ebene unter den Staaten.

"Die französische Gesellschaft ist wie eine Familie am Ende ihrer Kräfte. Es drohen politische Krise, schwelende kleine Bürgerkriege, Gesellschaftsgruppen, die den Aufstand proben."

In diesem Zusammenhang identifizierten die Gesprächspartner mehrere "Brüche", wovon der bedeutendste kultureller Natur war. Die auch im öffentlichen Raum immer sichtbarere und bejahte Diversität weckt Ängste vor dem Auseinanderfallen der französischen Gesellschaft. Während eine Gesprächspartnerin mit nordafrikanischem Migrationshintergrund auf die durch tägliche Diskriminierung entstehenden Blockaden, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, verwies, warnten andere vor einem Frankreich, in dem Solidarität nur auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaftsgruppen ausgeübt würde. Dies wäre völlig konträr zu den Grundprinzipien des französischen Republikanismus, die verlangen, dass identitäre Fragen wie Religionszugehörigkeit, Herkunft oder sexuelle Orientierung über das Dasein als Staatsbürger hinaus Privatangelegenheiten sind und auch bleiben müssen. Hinter all diesen Befürchtungen steht eine Enttäuschung der Bürger, gepaart mit einer verkrampften Haltung angesichts einer Republik, der es zunehmend schwerer fällt, ihr zentrales Versprechen der Einheit und Gleichheit einzulösen. Ganz sicher handelt es sich in diesem Punkt um eine französische Besonderheit, die mit dem traditionellen Konsens über die "republikanischen Werte" zu tun hat - wie auch die Analysten von France Stratégie betonen: "Da, wo der eine oder andere unserer Nachbarn nur die vielleicht etwas überhöhte Forderung einer bestimmten Gesellschaftsgruppe sieht (...), werden aus französischer Sicht bereits die Grundprinzipien des Zusammenlebens in Frage gestellt."[5] In gewissem Sinne steht diese Sorge im Zusammenhang mit tiefergehenden Fragen, wie die französische Identität in einem zunehmend interkulturell geprägten Kontext bewahrt werden kann. Lösungsvorschläge reichen hierbei von Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements über Widerstand gegen Diskriminierung bis zur Wiederbelebung der Rolle der Schule im republikanischen Schulsystem - welches jedoch wegen seiner Unzulänglichkeiten kritisiert wird. Dabei würde Schule als Ort fungieren, an dem sozialer Zusammenhalt entsteht und vermittelt wird.[6] Alles in allem wird deutlich, dass Frankreich auch aus Sicht der befragten Unternehmer in einer Art Identitätskrise steckt - wobei die "alte" Identität als durchaus bewahrenswert gilt, jedoch nicht klar ist, wie diese Bewahrung zu bewerkstelligen wäre.

Der zweite große Bruch, der aus Sicht der Gesprächspartner die französische Gesellschaft bedroht, ist sozialer Natur und direkte Folge der Wirtschaftskrise. Zwar erwähnten die Befragten kaum das Problem Massenarbeitslosigkeit, und insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit, obwohl Frankreich davon schwer betroffen ist. Aus den Gesprächen entsteht jedoch der Eindruck einer diffuseren Sorge bezüglich der "Aufspaltung" Frankreichs, und zwar in Privilegierte mit Zugang zu Wissen, Technologien und Finanzierungsmöglichkeiten einerseits, denen andererseits Menschen in prekären Verhältnissen gegenüberstehen, die dem weltweiten Wettbewerb ausgesetzt sind und über nur geringe soziale Absicherung verfügen. Auf der einen Seite die Angestellten der Unternehmen des CAC 40 (für frz. Cotation Assistée en Continu; Leitindex der vierzig führenden französischen Aktiengesellschaften) und der Finanzinstitute, aber auch die Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung, auf der anderen Seite die Mitarbeiter der Industrie und eines Teils der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Angesichts des technologischen Wandels und der daraus resultierenden Veränderungen der Arbeitswelt dürfte diese Ungleichheit in Zukunft sogar noch größer werden. Festzuhalten bleibt, dass dieser Bruch nicht entlang einer Trennlinie zwischen öffentlichem und privatem Sektor verläuft, sondern in erster Linie vom Bildungsniveau abhängt. Auch deshalb bestehen hier seitens der Befragten, wie schon beim ersten der beiden genannten Brüche, sehr hohe Erwartungen an das französische Schulsystem. Es dürfe nicht länger soziale Ungleichheit reproduzieren sondern müsse diese - gemäß seiner primären Aufgabe - ausgleichen.

Den Wirtschafts- und Finanzrahmen anpassen

Die zweite große Herausforderung bei der Gestaltung der Zukunft des Landes in den nächsten zehn Jahren betrifft wirtschaftliche und finanzielle Entscheidungen. Wenig überraschend angesichts der aktuellen Debatten über

"Budget-Orthodoxie" und ausgeglichene Haushalte teilten alle Befragten die Einstellung, dass Frankreich über seine Verhältnisse lebe. Einem der Unternehmer bereiteten die möglichen zukünftigen Auswirkungen eines verringerten Haushaltsdefizits auf die Sozialsysteme Sorge. Alle erkennen an, dass mangels Möglichkeit zu Investitionen in allen Politikbereichen die Ausgaben gesenkt und die Prioritäten der öffentlichen Hand besser definiert werden müssen. Die Befragten benannten diese Prioritäten während der Gespräche allerdings nicht konkret, genauso wenig wie sie sich über Ausmaß und Zeitplan des Schuldenabbaus äußerten.

Deutlich wird auf jeden Fall, dass parallel zur Sanierung der öffentlichen Haushalte Reformen als unabdingbar gelten. Diese sollen den französischen Unternehmen wieder zu größeren Margen und mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen. Auch in den Medien nimmt dieses seit dem Wahlkampf 2012 viel debattierte Thema viel Raum ein, welches zudem Gegenstand des Gallois-Berichtes ist. Zwei Forderungen lassen sich dabei in der französischen Diskussion ausmachen: . Sozialabgaben senken, mit dem Ziel, Arbeitskosten zu verringern; . Bürokratieabbau und Vereinfachung von Verwaltungsakten. Ersteres deckt sich mit der Analyse der "Kommission für Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen" und ist eine Schlussfolgerung aus der Konkurrenz aus Deutschland und den aufstrebenden Märkten. Als Reaktion auf diese haben die französischen Unternehmen ihre Margen in der Vergangenheit immer weiter verringert, um ihre Produkte und Dienstleistungen zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten zu können. Dies hatte geringere Cash-Flow-Umsatzraten zur Folge, und somit weniger Investitionen für Produktivität und Innovation.[7]

Die zweite, ebenfalls häufig in den Interviews geäußerte Forderung nach weniger Verwaltungsaufwand, wird wiederum von der Lauvergeon-Kommission aufgegriffen. Demnach stellt die "Bürde der Bürokratie" einen der Faktoren dar, die der Innovationsfähigkeit der französischen Wirtschaft im Weg stehen.

Mehrere der Gesprächspartner verwiesen darauf, dass die von der Regierung getroffenen Maßnahmen in die richtige Richtung gingen, insbesondere der sogenannte Crédit d'impôt pour la compétitivité et l'emploi (CICE), das heißt Steuererleichterungen, die zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und somit Arbeitsplätzen führen sollen.[8] Gleichzeitig kritisieren sie jedoch, dass die entsprechenden Beschlüsse zu spät gekommen seien und angesichts des Ausmaßes der Schwierigkeiten nicht weit genug gingen. An der Fähigkeit der französischen Politiker - egal welcher Prägung - ambitionierte Reformprojekte anzustoßen und umzusetzen, zweifeln die Interviewpartner weithin. Der Vorwurf lautet nicht nur, die politische Klasse beherrsche die Grundzüge der Volks- und Betriebswirtschaftslehre nur unzureichend, sie sei zudem unfähig, vorausschauend zu denken und die Bevölkerung "mitzunehmen". Wiederholt beschrieben sie die Abhängigkeit Frankreichs von seinen Gläubigern als Damokles-Schwert. Zudem scheinen Reformen aus Sicht der Befragten weniger durch tiefe Überzeugung motiviert als vielmehr eine Folge des Drucks von außen zu sein. In der Tat entspringt die Überzeugung, dass seriöses Haushalten und Reformen alternativlos sei, in erster Linie der drohenden "Bestrafung" durch die Finanzmärkte und der Angst vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit gegenüber dem deutschen Partner (für den Fall, dass Frankreich keine notwendigen Maßnahmen ergreift).

"Die Franzosen entfalten sich nur im Konflikt, bei den ‚großen nationalen Debatten'. Wir müssen uns einen Ruck geben. Wir müssen mit der Erwartung aufräumen, dass alles von oben kommen muss."

Darüber hinaus kamen beim Thema Reformen "Blockaden" zur Sprache, die aus dem "konfrontativen Geist" im sozialen Dialog entstünden. Einer der Gesprächspartner merkte gar an, dass in Frankreich nach wie vor der Mythos von der unterdrückten Arbeiterklasse aus dem 19. Jahrhunderts lebendig sei. Der Gallois-Bericht widmet diesem Thema ebenfalls ein ganzes Kapitel. Ausgehend von der Annahme, dass der nach dem zweiten Weltkrieg geschlossene "soziale Pakt" obsolet sei, rufen die Autoren zur Schaffung eines neuen Paktes auf, der auf dem Prinzip der Mitentscheidung beruht und dem digitalen Zeitalter mit seinen Innovationen und weltweitem Austausch gerecht wird. Der Bericht von France Stratégie zielt in dieselbe Richtung. Seine Autoren stellen fest, dass die Arbeitnehmer der vorwiegend hierarchisch organisierten französischen Unternehmen unzufrieden seien, was ein konfliktträchtiges Verhältnis zu den Arbeitgebern zur Folge habe. Mehr Wertschätzung und Beteiligung der Angestellten an der Art der Unternehmensführung, aber auch größerer "Spielraum bei den Tarifverhandlungen"[9] sind die angedachten Mittel, um das Miteinander in den Unternehmen wieder in ruhigeres Fahrwasser zu bringen und diese Unternehmen somit für die Zukunft leistungsfähiger zu machen.

Rückbesinnung auf eine Industriestrategie

Im direkten Zusammenhang mit der Anpassung des Wirtschafts- und Finanzrahmens steht die dritte Hauptherausforderung: der Wiederaufbau eines nachhaltigen Industriemodells, in dem auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Reindustrialisierung des Landes steht heutzutage im Mittelpunkt der französischen Debatte. Vor diesem Hintergrund wäre ein etwas aufgeregterer Ton seitens der Wirtschaftsakteure kaum verwunderlich gewesen. Auch wenn die Befragten durchaus die Erosion des industriellen Fundaments Frankreichs befürchten, brachte jedoch lediglich der Geschäftsführer eines Unternehmens in der "Provinz", das heißt außerhalb des Großraums Paris, die radikale Ausdünnung des industriellen Gefüges des Landes zur Sprache. Diesem Geschäftsführer ist die Besonderheit seiner Haltung dabei durchaus bewusst; ausdrücklich betont er die Diskrepanz zwischen dem, was in Paris gesagt werde und dem, wie die Dinge vor Ort, jenseits der Hauptstadt, tatsächlich aussähen.

Für viele Gesprächspartner war zudem klar, dass die französische Wirtschaft durchaus Trümpfe in der Hand hält. Neben der oben bereits erwähnten demografischen Entwicklung nannten sie häufig die Energiekosten, die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern - und vor allem zu Deutschland - niedriger sind. Die Energie-wende, die unter anderem eine Reduzierung von 75 auf 50 Prozent des nuklearen Anteils im Strommix vorsieht,[10] stößt nicht unbedingt auf Ablehnung, allerdings fordern sie auch für die Zukunft einen Energiemix, der weiterhin niedrige Preise ermöglicht. Als weiterer Trumpf galten die großen, international aufgestellten Unternehmensgruppen, die in ihrer Sparte Weltmarktführer sind, beispielsweise in der Luftfahrt, der Nahrungsmittelbranche, aber auch im Bereich Energie oder Luxusprodukte. Genauso lobten die Befragten die solide Infrastruktur, das Hochschulwesen und die Stadtpolitik, sowie die gute Positionierung französischer Unternehmen in Zukunftsbereichen, wie zum Beispiel Logistik, Umwelt oder Informatik.

Der Verweis auf die Pfunde, mit denen Frankreich wuchern kann, verstellte allerdings nicht den kritischen Blick auf die Entwicklung der französischen Industrie. Für die Kommission unter der Leitung von Louis Gallois stehen alle Signale auf Rot (Anteil der Industrie am Gesamtmehrwert, Anteil der Arbeitsplätze in der Industrie, Marktanteile im Export). Mehrere Befragte urteilten hart über den Mangel an strategischen Weichenstellungen seitens der privaten Entscheider und vor allem aber der Politik. Einer bedauerte, dass sich Frankreich nur sehr schwer von einem klassischen Industriemodell lösen könne, welches aus der Zeit Charles de Gaulles stamme. Die zukunftsweisenden technologischen Revolutionen gingen daher an Frankreich vorbei - beispielsweise in wissensbasierten Industriezweigen, insbesondere in der Biotechnologie.

"Erschreckend ist das kurzfristige Denken in den Unternehmen. Im Laufe der letzten 30 Jahre ist die Rolle des Staates als Stratege verloren gegangen. Heutzutage agiert er wesentlich mehr als Verwalter und ist somit weniger strategischer Akteur."

Bei der Frage nach der Zukunft des Produktionsmodells geht es auch darum, wie die vor allem die Start-ups betreffende Abwanderung von Fachkräften zu stoppen und Innovationen zielgerichteter zu fördern seien. In den drei zitierten Berichten ist die Notwendigkeit gezielterer Investitionsförderung Konsens. France Stratégie nennt die Schwäche des französischen Innovationssystems beim Namen: Die Autoren sprechen sich für neue Formen der horizontalen Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor aus, insbesondere vor dem Hintergrund der digitalen Revolution.[11] Die Kommission unter dem Vorsitz von Anne Lauvergeon, die sich ausschließlich mit dem Thema Innovation beschäftigt hat, möchte eine Kultur des Risikos und des Ausprobierens fördern, und das bereits an Schulen und Universitäten. Zudem plädieren die Experten für einen strategisch handelnden Staat und identifizieren sieben Zukunftsbereiche: Energiespeicherung, Recycling von Rohstoffen, Nutzung mariner Ressourcen, pflanzliche Proteine, individualisierte Medizin, die sogenannte Silver Economy und die Nutzung großer Datenmengen.[12] Diese Prioritäten entsprechen im Übrigen zu großen Teilen den von der Gallois-Kommission für strategische Investitionen identifizierten Bereichen, nämlich digitale Technologie, Gesundheit und Biowissenschaften sowie Energiewende.

Europa und die Welt

Die hier dargestellte Bewertung der sozio-ökonomischen Situation Frankreichs hängt eng mit der Einschätzung des europäischen und auch globalen Umfeldes des Landes zusammen. Die Europäische Union ist dabei für alle natürlicher Aktionsrahmen, und auch die Identifikation mit der europäischen Integration ist selbstverständlich. Von ausuferndem Enthusiasmus für die europäische Politik, so wie von "Brüssel" verantwortet, kann jedoch keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Europäische Kommission und andere europäische Institutionen werden oft streng bewertet, vor allem wenn es um Industrie- und Wettbewerbspolitik geht. Mangelnde Unterstützung europäischer Unternehmen in Zeiten immer rasanter werdenden globalen Wettbewerbs lautet dabei der Hauptvorwurf.

Eine recht sachliche Herangehensweise an das europäische Projekt

Kaum ein Befragter stellt die Europäische Union und den europäischen Gedanken in Frage. Auch in Zukunft werde ein Großteil der für Unternehmen relevanten Regelungen in Brüssel gesetzt, sodass Europa ganz selbstverständlich einen wichtigen Referenzrahmen schaffe. Die Befragten nahmen die europäische Integration meist als Zivilisationsprojekt und somit positiv wahr. Sie verbanden mit ihr Werte (wie die Würde des Menschen) sowie eine bestimme Art der Gestaltung der sozialen Beziehungen, insbesondere die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Mit Europa assoziierten sie allerdings auch einen zu selbstbezogenen Blick auf den Rest der Welt, gepaart mit zu viel Zaghaftigkeit. Mehrere Befragte beklagten sich über den kollektiven Hang zu übergroßer Selbstzufriedenheit seitens der Bürger Euro-pas und der Führungsverantwortlichen in den europäischen Institutionen. Dieser äußere sich nicht nur durch ein gering ausgeprägtes Bewusstsein für internationale Bedrohungen, sei es Terrorismus, Cybersicherheit oder Klimawandel, sondern auch durch eine angstgeleitete Herangehensweise etwa an technologische Risiken. Dies hindere die Europäer daran, ambitionierter zu experimentieren und innovativer zu sein.

Der Glaube an das europäische Projekt steht keineswegs im Widerspruch mit einer - mitunter sehr - kritischen Bewertung der europäischen Führungsfiguren. Beinahe systematisch warfen die Gesprächspartner "Brüssel" vor, bürokratisch und unflexibel zu sein, was sich insbesondere im globalisierten Kontext als problematisch erweise. Für die Expertenkommission von France Stratégie unter der Leitung von Jean Pisani-Ferry erscheint die Europäische Union daher "eher als Unsicherheits- denn als Stabilitätsfaktor".[13]

In diesem sich schnell wandelnden und potenziell bedrohlichen Kontext äußerten mehrere Befragte den Wunsch, die Europäische Union möge in Zukunft zur wirtschaftlichen, kulturellen und vor allem politischen Macht werden - wobei sie parallel zu diesem Wunsch oftmals der Befürchtung Ausdruck verliehen, die EU sei dazu nicht in der Lage. Verhindert werden müsse eine innere Spaltung, die in den kommenden Monaten und Jahren als Folge der finanziellen Fragmentierung geschehen könnte. Mehr noch als Staatsschulden oder mangelnde Wettbewerbsfähigkeit fürchteten die Interviewten angesichts der Krise eine EU, in der die nationalen Egoismen die Überhand gewönnen, interne Kämpfe geführt würden und jeder für sich agiere - ob nun in Finanzfragen oder bei der Industrie- und Energiepolitik - anstatt tiefere Integration zu forcieren und auf Solidarität zu setzen. Vor diesem Hintergrund plädierten sie eindringlich für die Konsolidierung der Eurozone. Die Forderung nach europäischer Macht setzt darüber hinaus voraus, dass sich die EU gegenüber dem Rest der Welt als glaubwürdiger politischer Akteur in Position bringt, mit einer Stimme spricht und gehört wird. Auch Frankreich, wie einige Gesprächspartner implizit zu verstehen gaben, könnte so an internationalem Einfluss zurückgewinnen. Mehrere Unternehmensvertreter betonten in diesem Zusammenhang, dass wirtschaftliche Macht zwar entscheidend sei, alleine jedoch nicht ausreichend. Daher forderten sie explizit Europas Ausstattung mit glaubwürdigen militärischen Fähigkeiten.

Im Gegensatz zu derart ambitionierten Visionen nahm ein geringerer, aber durchaus nennenswerter Anteil der interviewten Gesprächspartner die Europäische Union lediglich als eine Verwaltungsebene unter mehreren wahr. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die in der Branche der "neuen Technologien" tätig sind und die Auffassung vertreten, über die europäischen Besonderheiten hinaus eine universelle Kommunikationssprache zu sprechen. Diese Befragten denken weit über Europa und die sogenannte westliche Welt hinaus. Für sie stellt die EU im besten Fall eine Finanzierungsquelle für Forschungsprojekte dar, im schlechtesten eine Hürde für unternehmerisches Handeln.

Ganz gleich wie indes die Sicht auf das Integrationsprojekt EU ausfällt, zeichnet sich ein Konsens darüber ab, dass Wachstum in Europa immer schwerer zu erzielen sei und europäische Firmen daher zunehmend jenseits ihres Heimatkontinents aktiv werden müssten, um wachsen zu können. Hieraus erklärt sich auch die angeführte Notwendigkeit einer kohärenten und offensiven europäischen Positionierung angesichts des globalen Wettbewerbs.

Plädoyer für europäischen Wirtschaftspatriotismus

Aus den Gesprächen sowie aus den drei erwähnten Berichten wird deutlich, dass bezüglich der Notwendigkeit einer aktiven und zielgerichteten Industriepolitik auf europäischer Ebene Konsens besteht. Eine derartige Politik gilt als unabdingbare Voraussetzung, um die europäischen Unternehmen für die Zukunft gut aufstellen zu können. Zu diesem Schluss gelangten die Befragten in zwei Schritten: Zunächst warfen mehrere der Europäischen Kommission vor, ihre Wettbewerbspolitik werde der zunehmend scharfen - und in den kommenden Jahren schärfer werdenden - internationalen Konkurrenz nicht gerecht. Weiterhin sollten die Mitgliedstaaten und die Kommission die Gründung europäischer Großkonzerne unterstützen, welche auf dem Weltmarkt von morgen Marktführer sein können. Deutlich wird die hohe Bedeutung, die der europäischen Ebene in Sachen verbes-serte Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen beigemessen wird, beispielsweise auch aus der Tatsache, dass der "europäischen Industriepolitik" im Bericht der Gallois-Kommission ein ganzes Kapitel gewidmet ist.

"Auf europäischer Ebene sind wir alleine und arbeiten mitunter sogar gegen Brüssel."

"Wir machen uns selbst Konkurrenz. Wir müssen einsehen, dass wir im selben Boot sitzen. Wir dürfen nicht mehr Frankreich mit Deutschland vergleichen, sondern die europäischen Länder mit dem Rest der Welt."

In diesem Bericht kommt die Politik der Europäischen Kommission nicht gut weg. Nicht nur, so der Vorwurf, verzerre sie den internationalen Wettbewerb, indem sie den Konsumenten besser stellt als den Produzenten. Sie basiere zudem auf einem "zu juristischen Ansatz", der zu wenig Raum für weitere Faktoren lasse, wie etwa "die wirtschaftliche Dimension, die Größe des Marktes, die mittelfristigen Branchendynamiken, Skaleneffekte oder unterstützende Maßnahmen, von denen der Wettbewerber profitiert".[14] Derartige Vorwürfe äußerten auch mehrere befragte Unternehmer und Manager. Sie betonten auch, wie sehr die europäische Wettbewerbspolitik der Fusion europäischer Unternehmen im Weg stehe, die jedoch angesichts der Entwicklungen auf den Weltmärkten notwendig seien, um Kompetenzen zu bündeln und eine kritische Unternehmensgröße zu erreichen. In diesem Punkt gingen einige Befragte so weit zu sagen, dass sie keine Angst vor der Konkurrenz aus anderen Erdteilen hätten. Die Europäische Kommission dagegen handle illoyal und die Europäer schadeten sich mit ihren selbstgegebenen Regeln selbst. Als Reaktion auf derartige Vorwürfe schlagen die Experten um Louis Gallois vor, dass in Zukunft jeder Entscheidung der Kommission eine Einschätzung von unabhängigen "Sachverständigen für Wirtschaft und Industrie" vorausgehen sollte.

Die Forderung nach einer ambitionierten und zielgerichteten Industriepolitik kam in den Gesprächen in Verbindung mit konkreten Vorschlägen auf. Einerseits hielten die Befragten fest, dass die Unterschiede bei der Steuerpolitik innerhalb der EU der Entstehung großer europäischer Industrieprojekte im Weg stünden, wie sie beispielsweise im Bereich der erneuerbaren Energien denkbar wären. Vor diesem Hintergrund riefen sie zur Angleichung der nationalen Steuersysteme oder gar zur Schaffung eines "Steuerkorridors" auf. Darüber hinaus fürchteten sie auch für die Europäische Ebene einen Brain Drain, wie er in Frankreich bereits stattfindet. Es bestehe die Gefahr, dass andere Akteure - insbesondere amerikanische und chinesische - bald diejenigen Zukunftstechnologien in den Händen hielten, bei denen heute die Europäer an der Spitze stehen - zum Beispiel bei vernetzten Geräten. Manche plädierten daher für die Schaffung europäischer Silicon Valleys, mit Hilfe finanzieller Unterstützung insbesondere für Start-ups. Gerade in diesem Bereich ist die französische Wirtschaft stark.

Im Angesicht des globalen Wettbewerbs

Diese Überlegungen zeugen vom Bewusstsein für eine Welt im stetigen Wandel, welcher von den Europäern weitreichende Anpassungsfähigkeit erfordert. In mehreren Gesprächen, ebenso wie in den Berichten der Kommission für Innovation und von France Stratégie, wurde betont, dass weitreichende geopolitische Veränderungen unmittelbar bevorstünden. Häufig zeichneten die Befragten das Bild einer multipolaren Welt, in der Europa ein wichtiges Machtzentrum bleibe, jedoch als eines unter mehreren Machtzentren (andere liegen in Asien und den Vereinigten Staaten).

In der Welt von morgen werde wirtschaftliche Macht immer wichtiger. Wenig überraschend gilt China - sowie weitere aufstrebende Märkte - als der große Konkurrent der Zukunft. Nicht alle sind dadurch beunruhigt. Einige Befragte relativierten die chinesische Wettbewerbsfä-higkeit angesichts des europäischen Vermögens, sich in fachwissenintensiven Bereichen zu positionieren. Andere blickten wohlwollend auf die wirtschaftliche Entwicklung Chinas und die somit entstehenden Exportmärkte. Der zweite große Konkurrent seien die Vereinigten Staaten, die sich traditionell in den strategischen und zukunftsträchtigen Wirtschaftszweigen positionieren. Dies gelte insbesondere für die Computer- und Internet-branche sowie die Biotechnologie, für die - aus Sicht der Befragten - in den USA bessere Finanzierungsmöglichkeiten für neu gegründete Unternehmen existierten. Das derzeit verhandelte Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU spielte in diesem Kontext kaum eine Rolle. Die meisten Befragten gaben zu, nicht ganz genau zu wissen, worum es bei TTIP geht. Mehrere zeigten sich jedoch misstrauisch und blickten kritisch auf eine (angebliche?) amerikanische Tendenz zum Protektionismus oder zumindest zur Umgehung multilateraler Regelungen zu amerikanischen Gunsten.

"Die Europäer werden bei den Energiekosten und bei den Arbeitskosten verlieren. Lasst uns nicht auch beim Wissen verlieren, wir dürfen nicht fatalistisch sein."

Ebenfalls festzuhalten ist auf französischer Seite das deutliche Interesse für Afrika. Trotz durchaus vorhandener Vorbehalte aufgrund der politischen Instabilität und der technologischen Rückständigkeit des Kontinents wurde mehrfach dessen großes Potential für Wachstum und Konsum europäischer Güter aufgeführt. Mehr als einmal nannten Befragte Afrika als Region, in der sich europäische Firmen etablieren sollten.

Immer schneller fließende Handelsströme, immer weiter verbreitetes Knowhow - insbesondere in den aufstrebenden Märkten –, aber auch die immer größere Bedeutung der digitalen Wirtschaft: all dies zwingt die Europäer dazu, auf wissensbasierte Produkte und Dienstleistungen zu setzen. In diesem Punkt waren sich die meisten Gesprächspartner einig. Unterschiedlich war lediglich die Einschätzung der Dringlichkeit und des Ausmaßes der Herausforderungen - und das zum Teil erheblich. Für einige reichte es aus, wenn Europa in Sachen Fachwissen und Technologie weiterhin "einen Schritt voraus" bleibt. Andere wiederum glaubten, dass "die anderen" derart schnell aufholen, dass ein harter Kampf bevorstehe. Dies liege nicht zuletzt am zum Teil erheblichen finanziellen Einsatz seitens Europas Konkurrenten. Europa müsse somit schnell reagieren. Gerade in diesem Zusammenhang betonten einige Unternehmensvertreter, dass Frankreich deutliche Anstrengungen unternehmen müsse, um sich zu öffnen und an die Globalisierung anzupassen - auch im öffentlichen Sektor. Somit kommt hier wieder das Schulsystem ins Spiel. Angesichts der Herausforderungen der modernen Welt empfinden viele die Lehrpläne als nicht mehr zeitgemäß.

Schlussbemerkungen

Nach der Auswertung aller geführten Gespräche festzustellen, ob nun unter den Befragten die Deutschen oder die Franzosen die größten Zukunftsängste plagen, ist kein einfaches Unterfangen. Auf den ersten Blick scheint der Pessimismus auf der linken Rheinseite deutlich ausgeprägter. Die verschiedenen Berichte, die von den Behörden entweder verfasst oder bestellt wurden und an denen auch Führungspersonal aus Unternehmen beteiligt war, zeugen von tiefen Sorgen bezüglich der Zukunft. Die angestellten Überlegungen zeigen, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Herausforderungen vorhanden ist, die sich aus dem weltweiten Wandel ergeben. Darüber hinaus wird deutlich, dass Fragen zur Besonderheit der französischen Identität in Zeiten der Globalisierung im Raum stehen. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares. Eine Tradition öffentlich in Auftrag gegebener Berichte existiert hierzulande nicht; vor allem aber agieren die Entscheidungsträger nicht unter dem Eindruck, eine Zeitenwende mitzuerleben.

Allerdings stellen sich die Dinge bei genauerem Hinsehen durchaus differenzierter dar. In Frankreich steht außer Frage, dass die Verantwortlichen in der Wirtschaft sich (sehr) große Sorgen hinsichtlich der aktuellen Lage ihres Landes und der Europäischen Union machen. Ihrer Auffassung nach könnten die Spannungen innerhalb der französischen Gesellschaft sehr schnell zur Infragestellung des "republikanische Konsenses" führen - und damit der Grundfesten des französischen Gesellschaftsvertrags. Ebenso fürchten sie, dass die durch die Krise stärker zutage tretenden nationalen Egoismen die Spaltung der EU zur Folge haben könnten. Gleichzeitig jedoch verweigern sie mittel- bis langfristig jeden Defätismus. Im Gegenteil: Die französischen Befragten zeigen sich überzeugt, dass gute Politik seitens der öffentlichen Hand - auf nationalstaatlicher wie europäischer Ebene - den Trend umkehren könnte, indem sie unter anderem den Unternehmen wieder Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen und sie in die Lage versetzen würde, in der globalisierten Weltwirtschaft an erster Stelle mitzuspielen.

Beinahe das Gegenteil zeichnet sich bei den Befragten aus Deutschland ab. Die derzeit solide wirtschaftliche Lage des Landes lässt sie gelassen auf das Geschehen blicken. Auch wenn sie die Risiken auf internationaler Ebene - seien sie politischer oder umweltbedingter Natur - durchaus wahrnehmen, fühlen sie sich davon nicht direkt betroffen. Dennoch äußern auch sie Zukunftsängste: Sorgen bereiten ihnen nicht nur drohende Rückschritte der europäischen Integration, sondern auch die Positionierung Deutschlands in der globalisierten Wirtschaft. Viele sind der Auffassung, dass Deutschland Gefahr laufe, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen und so das Ausmaß der Herausforderungen, vor denen es bereits heute steht, übersieht. Träte dies ein, würde sich die Lage der Bundesrepublik schnell verschlechtern. Vor diesem Hintergrund werden der demografische Wandel und die Energiewende als Hypotheken auf die Nachhaltigkeit des deutschen Modells wahrgenommen - zumindest solange sie politisch nicht sinnvoll eingebettet und begleitet werden.

Wenn sie auf die Zukunft blicken, sind sich Deutsche und Franzosen auf jeden Fall einig, dass Handeln dringend angesagt ist. Das hindert sie allerdings nicht daran, unterschiedliche Handlungsempfehlungen auszusprechen, zum Beispiel bezüglich der Industriepolitik oder militärischer Fähigkeiten für die Europäische Union. In diesen wie auch anderen Fragen spiegeln die Antworten und angedachten Lösungen deutlich die nationalen Traditionen wider, die im kollektiven Unterbewusstsein der beiden Länder tief verankert sind. Angesichts der nur kurzen Geschichte der europäischen Integration verwundert es kaum, dass diese Unterschiede weiter bestehen. Zugleich teilen die Wirtschaftsakteure aus Deutschland und Frankreich in anderen Punkten dieselben Auffassun-Anmerkungengen, sei es bei der Kritik an der Brüsseler Wettbewerbspolitik oder bei der Forderung nach besserer Unterstützung für Forschung und Innovationen, um gegenüber der chinesischen und amerikanischen Konkurrenz bestehen zu können. Bei diesen Punkten sind die Unterschiede zwischen Wirtschaftsakteuren und Politikern aus den jeweiligen Ländern und auf europäischer Ebene deutlich erkennbar: Letzteren wird fast unisono vorgeworfen, nicht weit genug in die Zukunft zu blicken.

Wie aus diesem deutsch-französischen Vergleich deutlich wird, zeichnet sich auch hier keine gemeinsame

"strategische Kultur" ab - diese gibt es in Wirtschaftsfragen also genauso wenig wie im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Allerdings führt die Wahrnehmung der Risiken und Chancen, die sich aus der Globalisierung ergeben, zur Annäherung der Sichtweisen von Wirtschaftsakteuren in beiden Ländern. Die Preisfrage lautet selbstverständlich, ob diese noch begrenzte Konvergenz weiter bestehen wird und vor allem auf politischer Ebene zu konzertierter Aktion führt. Der Ball liegt dabei eindeutig bei der Politik.


[1] Eine Ausnahme von der Regel stellt der Bericht über die Stärkung der Investitionen in Deutschland dar, den Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel bei einer Expertenkommission unter der Leitung von Prof. Dr. Marcel Fratzscher, des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in Auftrag gegeben hat.
[2] Vgl. Jérôme Fourquet, Crise et situation économique: regards croisés franco-allemands, Fondation Jean Jaurès/Friedrich-Ebert-Stiftung, 8.12.2014, (abgerufen am 12.1.2015).
[3] Zur "zunehmenden Akademisierung" gab es allerdings kritische Beiträge, da diese am Bedarf der Wirtschaft vorbeigehe. So sei es gar nicht notwendig, dass "alle studieren" - letzten Endes fehlten vor allem Kräfte mit Praxiserfahrung, während die frisch von der Universität kommenden Aka demiker oft wenig Ahnung vom "echten Leben" hätten und das "Mitdenken" nicht beherrschten.
[4] Es handelt sich erstens um den Bericht über die französische Wettbewerbsfähigkeit, mit dem Louis Gallois beauftragt war und der Premier minister Jean-Marc Ayrault im November 2012 übergeben wurde, Pacte pour la compétitivité de l'industrie française, (abgerufen am 12.1.2015). Zweitens um den von Anne Lauvergeon herausgegebenen Bericht der Commission Innovation 2030, Un principe et sept ambitions pour l'innovation, (abgerufen am 12.1.2015). Drittens um die Analyse Quelle France dans dix ans? (Jean PisaniFerry) des Commissariat général à la stratégie et à la prospective (France Stratégie), die im Juni 2014 dem Staatspräsidenten und dem Premierminister zuging, (abgerufen am 12.1.2015).
[5] Vgl. Pisani-Ferry, Quelle France dans dix ans?, a.a.O.(Anm. 4), S. 38. Alle Übersetzungen durch die Autorinnen.
[6] Nach den Anschlägen von Paris ist die alte Debatte über die integrative Funktion des Schulsystems neu entflammt. In der öffentlichen Diskussionist nun von einer "Schulapartheid" die Rede. Am 22. Januar 2015 hat die Bildungsministerin eine Bildungsoffensive angekündigt, die den Schulen in Zukunft besser ermöglichen soll, die Werte der Republik zu vermitteln. Zur Integrationsdebatte in Frankreich vgl. Claire Demesmay, Das Ringen um Gleichheit: Integration als Chance für Frankreich, in: DGAPanalyse 4, April 2012
[7] Vgl. Gallois, Pacte pour la compétitivité de l'industrie française, a.a.O. (Anm. 4), S. 10-12.
[8] Der CICE ist ein Steuervorteil für Unternehmen mit Angestellten und wirkt daher wie gesenkte Sozialabgaben für Arbeitgeber.
[9] Vgl. Pisani-Ferry, Quelle France dans dix ans?, a.a.O.(Anm. 4), S. 133.
[10] Vgl. Michael Neubauer, Adieu Atomkraft, in: IP-Länderporträt, November 2014, Seite 38-43.
[11] Vgl. Pisani-Ferry, Quelle France dans dix ans?,a.a.O. (Anm. 4), S. 140.
[12] Vgl. Lauvergeon, Un principe et sept ambitions pour l'innovation, a.a.O. (Anm. 4), S. 12.
[13] Vgl. Pisani-Ferry, Quelle France dans dix ans?,a.a.O. (Anm. 4), S. 27.
[14] Vgl. Gallois, Pacte pour la compétitivité de l'industrie française, a.a.O. (Anm. 4), S. 49.

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